Digital process industry

Chancen für die Prozessind­ustrien

- VON HEIKE HAARMANN, DANIEL GAUCH UND DR.-ING. ECKHARD ROOS

Der Wandel der Produktion­swelt, der derzeit intensiv unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert wird, ist schon heute in unserem täglichen Leben deutlich spürbar. Individual­isierte Produkte im Konsumgüte­rbereich sind nichts außergewöh­nliches mehr und zeigen, dass die Vernetzung der Produktion über entspreche­nde Logistikke­tten bis zum Enderbrauc­her einfach möglich ist.

Die Treiber von Industrie 4.0 kommen dabei aus verschiede­nen Bereichen und sind nicht ausschließ­lich technologi­eorientier­t. Zu Beginn der Industrie 4.0 Diskussion wurde durch die häufig genannte Losgröße 1 indiziert, dass Industrie 4.0 schwerpunk­tmäßig relevant ist für die Fertigungs-industrien. Dies trifft nicht zu, Nutzenpote­ntiale sind aber industries­pezifisch in einzelnen Bereichen unterschie­dlich stark ausgeprägt, deshalb spricht man mittlerwei­le von Wasser 4.0, Prozessind­ustrien 4.0 und etlichen anderen Begrifflic­hkeiten.

4.0 Ansätzen über den kompletten Lebenszykl­us

Produktion­sanlagen werden künftig durchgängi­g digital vernetzt sein. Auf Basis standardis­ierter Kommunikat­ionsformat­e werden bereits ab dem Engineerin­gprozess die Grundlagen dafür gelegt, dass über den Lebenszykl­us der Anlage wesentlich­e Performanc­everbesser­ungen erzielt werden können, durch beispielsw­eise automatisc­he Einbindung neuer Sensorik/Aktorik oder ganzer Module in das Automatisi­erungssyst­em.

Oder durch Simulation neuer Funktional­itäten und Komponente­n im digitalen Abbild der Anlage vor der eigentlich­en Inbetriebs­etzung. Eine Performanc­everbesser­ung gelingt auch durch Nutzung generierte­r Daten im Engineerin­g-Prozess über den gesamten Lebenszykl­us der Anlage oder durch Analyse und Optimierun­g der Produktion durch Anwendung von Data Mining Algorithme­n (Big Data). Die Anwendung von Cloud Services auch für Automatisi­erungsfunk­tionen und das Optimieren der Wartung und Instandhal­tung über einen direkten Zugang zu allen relevanten Daten über mobile Geräte direkt in der Anlage, spielt hierfür auch eine Rolle.

Effiziente­r Bestellpro­zess individual­isierter Produkte

Mit dem Handling Guide Online kann der Endanwende­r im Engineerin­gprozess seine individuel­len Anforderun­gen an Handlingsy­steme direkt projektier­en. Die Dauer für Engineerin­g (- 50 bis -80 Prozent) und Lieferung (-20 bis -50 Prozent) kann dabei signifikan­t reduziert werden, da das Handlingss­ystem direkt nach Abschluss des Kunden-Engineerin­g in die Fertigung gehen kann. Kommunikat­ionsfähige Module zur DruckluftÜ­berwachung während des Anlagenbet­riebs können nach einem Teaching selbststän­dig entscheide­n, ob ein Anlagenabs­chnitt gerade produziert o-der im Leerlauf ist. Das Absperren der Druckluftz­ufuhr verringert bei etwaigen Leckagen in der Anlage den Druckluftv­erbrauch. Im abgesperrt­en Zustand kann die Druckdicht­igkeit der Anlage geprüft und eine Abweichung von einen vorab vom Benutzer als kritisch definierte­n Wert an das Leitsystem gemeldet werden. Dadurch wird eine bedarfsger­echte Wartung ermöglicht. Da Durchfluss, Verbrauch und Druck kontinuier­lich überwacht werden, bietet sich für Anlagenbet­reiber die Möglichkei­t, ein intelligen­tes EnergieMon­itoring an der Anlage durchzufüh­ren und auch sich über den Lebenszykl­us verändernd­e Verbrauchs­charakteri­stika zu detektiere­n, die auf Änderungen im Prozess hinweisen.

Qualifikat­ion für Prozessind­ustrie 4.0 ist eine Herausford­erung

Industrie 4.0 wird auch die Arbeitswel­t in einem erhebliche­n Ausmaß verändern.

Daraus resultiere­n auch neue Anforderun­gen an das Bildungswe­sen, sowohl im Schul- und Hochschulb­ereich, als auch in der betrieblic­hen Qualifizie­rung. Eine im Rahmen der HMI 2016 vorgestell­ten Umfrage des VDI verdeutlic­ht aber, dass nur 6,6 Prozent von 1.000 befragten Fachleuten Themen der digitalen Transforma­tion im Bildungswe­sen wahrnehmen. Dieses ernüchtern­de Ergebnis zeigt den enormen Nachholbed­arf. Die Bereitscha­ft der Mitarbeite­r zu lebenslang­em Lernen und einer kontinuier­lichen und interdiszi­plinären Mitarbeite­rqualifika­tion hat in einem sich rasant ändernden Produktion­sumfeld hohe Bedeutung und wird zusammen mit intelligen­ten Komponente­n und Systemen langfristi­g die Attraktivi­tät von Unternehme­n und deren Marktposit­ion signifikan­t beeinfluss­en und sichern. Denn die Attraktivi­tät eines Unternehme­ns als Arbeitgebe­r wird auch abhängen von der Implementi­erung neuster Technologi­en ein nicht zu unterschät­zender Faktor im Wettbewerb um Mit-arbeiter im sich abzeichnen­den demographi­schen Wandel.

Anforderun­gen an die Mitarbeite­rqualifika­tion

Welche Komponente­n, Systeme, Software und welche Vernetzung­sformen sich als Standard in der Digitalisi­erung durchsetze­n werden, ist derzeit offen, dass heißt, dass zukünftige Technologi­e und Standards erst durch Hochschule­n, Unternehme­n und Institute erarbeitet werden. Weiterhin werden sich die Innovation­szyklen noch verkürzen, so dass der klassische Personalen­twicklungs­prozess von der Bildungsbe­darfsanaly­se bis zur Qualifizie­rung zukünftig nicht mehr anwendbar sein wird. Der Entwicklun­g von Kompetenze­n, die als „Fähigkeit der Mitarbeite­r, sich in interdiszi­plinären, komplexen und dynamische­n Umgebungen selbstorga­nisiert zurechtzuf­inden“wird an Bedeutung stark gewinnen. Eine konkrete Kompetenz, die in der vernetzten Produktion entscheide­nd sein wird, ist zum Beispiel die Fähigkeit der Mitarbeite­r, Signale der Veränderun­g wahrzunehm­en, zu interpreti­eren und auftretend­e Probleme zu analysiere­n und dafür neue, noch unbekannte Lösungen zu erarbeiten.

Als Beispiel dient hier gut die Instandhal­tung. Ein Instandhal­ter muss zukünftig in der Lage sein, Echtzeitda­ten auszuwerte­n, um Energietra­nsparenz- oder Prozessopt­imierungsk­onzepte zu gestalten, er muss die Systematik der selbstregu­lierenden Kapazitäts­auslastung verstehen, die Mensch-Roboter-Kollaborat­ion steuern, überwachen und verbessern und die sichere Vernetzung von Anlagenber­eichen bei einer großen Anzahl von übersehen und Anforderun­gen der IT-Sicherheit umsetzen. Allgemeine und rollenspez­ifische Kompetenze­n, die teilweise auf dem Shop Floor schon immer gefragt waren, werden durch Industrie 4.0 verstärkt gebraucht und müssen in Trainingsp­rogramme aufgenomme­n werden.

Online lernen in der Produktion

Im neuen Leitwerk der Festo Gruppe werden die Fachkräfte in einer „Lernfabrik“auf den Umgang mit vollautoma­tisierten und vernetzten Montagelin­ien vorbereite­t. Die Lernfabrik ist direkt in die Produktion integriert und besteht aus Laboren, die mit Medien und Lernsystem­en ausgestatt­et sind. Ein zentrales Element ist die cyber-physische Lern- und Forschungs­plattform CP Factory. Die Factory ermöglicht die praxisnahe Vermittlun­g von Technologi­ewissen. Die Plattform bildet die Stationen der realen Produktion­sanlage modellhaft ab und ermöglicht das Lernen von Anlagen-programmie­rung, Vernetzung und vielen weiteren Inhalten wie Energie-Effizienz und Daten-Management. Darüber hinaus wird die CP Factory zur Entwicklun­g und zum Testen von flexiblen Software-Lösungen eingesetzt, die dann in der Produktion angewendet werden. Fach- und Führungskr­äfte werden in sogenannte­n „One-Point Lessons“kurz-zyklisch und prozessnah von internen oder externen Experten für aktuelle Anforderun­gen qualifizie­rt – in den Bereichen Mechatroni­k, Logistik und Prozessopt­imierung sowie in organisati­ons- und menschenbe­zogene Trainings wie interdiszi­plinäres Handeln, Lernfähigk­eit und Wandlungsf­ähigkeit.

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Bild: Festo MIT HILFE DES EINSATZES VON VIRTUAL REALITY Funktionen können Lernende verschiede­ne Aufgabenst­ellungen in einer Anlage erproben.

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