Chancen für die Prozessindustrien
Der Wandel der Produktionswelt, der derzeit intensiv unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert wird, ist schon heute in unserem täglichen Leben deutlich spürbar. Individualisierte Produkte im Konsumgüterbereich sind nichts außergewöhnliches mehr und zeigen, dass die Vernetzung der Produktion über entsprechende Logistikketten bis zum Enderbraucher einfach möglich ist.
Die Treiber von Industrie 4.0 kommen dabei aus verschiedenen Bereichen und sind nicht ausschließlich technologieorientiert. Zu Beginn der Industrie 4.0 Diskussion wurde durch die häufig genannte Losgröße 1 indiziert, dass Industrie 4.0 schwerpunktmäßig relevant ist für die Fertigungs-industrien. Dies trifft nicht zu, Nutzenpotentiale sind aber industriespezifisch in einzelnen Bereichen unterschiedlich stark ausgeprägt, deshalb spricht man mittlerweile von Wasser 4.0, Prozessindustrien 4.0 und etlichen anderen Begrifflichkeiten.
4.0 Ansätzen über den kompletten Lebenszyklus
Produktionsanlagen werden künftig durchgängig digital vernetzt sein. Auf Basis standardisierter Kommunikationsformate werden bereits ab dem Engineeringprozess die Grundlagen dafür gelegt, dass über den Lebenszyklus der Anlage wesentliche Performanceverbesserungen erzielt werden können, durch beispielsweise automatische Einbindung neuer Sensorik/Aktorik oder ganzer Module in das Automatisierungssystem.
Oder durch Simulation neuer Funktionalitäten und Komponenten im digitalen Abbild der Anlage vor der eigentlichen Inbetriebsetzung. Eine Performanceverbesserung gelingt auch durch Nutzung generierter Daten im Engineering-Prozess über den gesamten Lebenszyklus der Anlage oder durch Analyse und Optimierung der Produktion durch Anwendung von Data Mining Algorithmen (Big Data). Die Anwendung von Cloud Services auch für Automatisierungsfunktionen und das Optimieren der Wartung und Instandhaltung über einen direkten Zugang zu allen relevanten Daten über mobile Geräte direkt in der Anlage, spielt hierfür auch eine Rolle.
Effizienter Bestellprozess individualisierter Produkte
Mit dem Handling Guide Online kann der Endanwender im Engineeringprozess seine individuellen Anforderungen an Handlingsysteme direkt projektieren. Die Dauer für Engineering (- 50 bis -80 Prozent) und Lieferung (-20 bis -50 Prozent) kann dabei signifikant reduziert werden, da das Handlingssystem direkt nach Abschluss des Kunden-Engineering in die Fertigung gehen kann. Kommunikationsfähige Module zur DruckluftÜberwachung während des Anlagenbetriebs können nach einem Teaching selbstständig entscheiden, ob ein Anlagenabschnitt gerade produziert o-der im Leerlauf ist. Das Absperren der Druckluftzufuhr verringert bei etwaigen Leckagen in der Anlage den Druckluftverbrauch. Im abgesperrten Zustand kann die Druckdichtigkeit der Anlage geprüft und eine Abweichung von einen vorab vom Benutzer als kritisch definierten Wert an das Leitsystem gemeldet werden. Dadurch wird eine bedarfsgerechte Wartung ermöglicht. Da Durchfluss, Verbrauch und Druck kontinuierlich überwacht werden, bietet sich für Anlagenbetreiber die Möglichkeit, ein intelligentes EnergieMonitoring an der Anlage durchzuführen und auch sich über den Lebenszyklus verändernde Verbrauchscharakteristika zu detektieren, die auf Änderungen im Prozess hinweisen.
Qualifikation für Prozessindustrie 4.0 ist eine Herausforderung
Industrie 4.0 wird auch die Arbeitswelt in einem erheblichen Ausmaß verändern.
Daraus resultieren auch neue Anforderungen an das Bildungswesen, sowohl im Schul- und Hochschulbereich, als auch in der betrieblichen Qualifizierung. Eine im Rahmen der HMI 2016 vorgestellten Umfrage des VDI verdeutlicht aber, dass nur 6,6 Prozent von 1.000 befragten Fachleuten Themen der digitalen Transformation im Bildungswesen wahrnehmen. Dieses ernüchternde Ergebnis zeigt den enormen Nachholbedarf. Die Bereitschaft der Mitarbeiter zu lebenslangem Lernen und einer kontinuierlichen und interdisziplinären Mitarbeiterqualifikation hat in einem sich rasant ändernden Produktionsumfeld hohe Bedeutung und wird zusammen mit intelligenten Komponenten und Systemen langfristig die Attraktivität von Unternehmen und deren Marktposition signifikant beeinflussen und sichern. Denn die Attraktivität eines Unternehmens als Arbeitgeber wird auch abhängen von der Implementierung neuster Technologien ein nicht zu unterschätzender Faktor im Wettbewerb um Mit-arbeiter im sich abzeichnenden demographischen Wandel.
Anforderungen an die Mitarbeiterqualifikation
Welche Komponenten, Systeme, Software und welche Vernetzungsformen sich als Standard in der Digitalisierung durchsetzen werden, ist derzeit offen, dass heißt, dass zukünftige Technologie und Standards erst durch Hochschulen, Unternehmen und Institute erarbeitet werden. Weiterhin werden sich die Innovationszyklen noch verkürzen, so dass der klassische Personalentwicklungsprozess von der Bildungsbedarfsanalyse bis zur Qualifizierung zukünftig nicht mehr anwendbar sein wird. Der Entwicklung von Kompetenzen, die als „Fähigkeit der Mitarbeiter, sich in interdisziplinären, komplexen und dynamischen Umgebungen selbstorganisiert zurechtzufinden“wird an Bedeutung stark gewinnen. Eine konkrete Kompetenz, die in der vernetzten Produktion entscheidend sein wird, ist zum Beispiel die Fähigkeit der Mitarbeiter, Signale der Veränderung wahrzunehmen, zu interpretieren und auftretende Probleme zu analysieren und dafür neue, noch unbekannte Lösungen zu erarbeiten.
Als Beispiel dient hier gut die Instandhaltung. Ein Instandhalter muss zukünftig in der Lage sein, Echtzeitdaten auszuwerten, um Energietransparenz- oder Prozessoptimierungskonzepte zu gestalten, er muss die Systematik der selbstregulierenden Kapazitätsauslastung verstehen, die Mensch-Roboter-Kollaboration steuern, überwachen und verbessern und die sichere Vernetzung von Anlagenbereichen bei einer großen Anzahl von übersehen und Anforderungen der IT-Sicherheit umsetzen. Allgemeine und rollenspezifische Kompetenzen, die teilweise auf dem Shop Floor schon immer gefragt waren, werden durch Industrie 4.0 verstärkt gebraucht und müssen in Trainingsprogramme aufgenommen werden.
Online lernen in der Produktion
Im neuen Leitwerk der Festo Gruppe werden die Fachkräfte in einer „Lernfabrik“auf den Umgang mit vollautomatisierten und vernetzten Montagelinien vorbereitet. Die Lernfabrik ist direkt in die Produktion integriert und besteht aus Laboren, die mit Medien und Lernsystemen ausgestattet sind. Ein zentrales Element ist die cyber-physische Lern- und Forschungsplattform CP Factory. Die Factory ermöglicht die praxisnahe Vermittlung von Technologiewissen. Die Plattform bildet die Stationen der realen Produktionsanlage modellhaft ab und ermöglicht das Lernen von Anlagen-programmierung, Vernetzung und vielen weiteren Inhalten wie Energie-Effizienz und Daten-Management. Darüber hinaus wird die CP Factory zur Entwicklung und zum Testen von flexiblen Software-Lösungen eingesetzt, die dann in der Produktion angewendet werden. Fach- und Führungskräfte werden in sogenannten „One-Point Lessons“kurz-zyklisch und prozessnah von internen oder externen Experten für aktuelle Anforderungen qualifiziert – in den Bereichen Mechatronik, Logistik und Prozessoptimierung sowie in organisations- und menschenbezogene Trainings wie interdisziplinäres Handeln, Lernfähigkeit und Wandlungsfähigkeit.