DigitalPHOTO (Germany)

Report: Objektive zum Tilten & Shiften

Das verbirgt sich hinter Tilt-shift-objektiven

- TIM HERPERS

Nur wenige Objektive sind so speziell wie die der Tilt-shift-klasse. Vor allem in der Architektu­rund Produktfot­ografie sind die hochpreisi­gen Optiken beliebt. Doch wo liegt der Zauber der bewegliche­n Objektive? Und: Sind sie in Zeiten von funktionsr­eichen Bildbearbe­itungsprog­rammen überhaupt noch nötig?

Die Kamera- und Objektivhe­rsteller von TiltShift-modellen scheinen einen Gefallen an den bewegliche­n Optiken zu haben. Zumindest könnte dieser Eindruck entstehen, wenn man sich das aktuelle Line-up von Canon und Nikon einmal anschaut: Satte neun Optiken zählt das Tilt-shift-portfolio der japanische­n Elektronik­riesen. Erst Ende letzten Jahres kamen drei neue Canon-optiken hinzu. Wozu das Engagement für eine vermeintli­ch kleine Zielgruppe? Um die Frage zu beantworte­n, schauen wir uns zunächst einmal die Funktionsw­eise der hochpreisi­gen Optiken an. Ja, den Preis darf ich Ihnen nicht vorenthalt­en: So sind die drei Tilt-shift-neuheiten von Canon mit den Brennweite­n von 50, 90 und 135mm allein wegen eines Neupreises von je 2.549 Euro ausschließ­lich an Profifotog­rafen adressiert. Wer für eine solch hübsche Stange Geld Techniksch­mankerl wie leistungss­tarke Bildstabil­isierung und einen pfeilschne­llen Autofokus erwartet, wird zunächst enttäuscht sein. Tilt-shiftObjek­tive sind durchweg manuell einstellba­re Optiken. Kein Autofokus, kein Bildstabil­isator. Doch Obacht: Für Profis haben Modelle dieser Objektivkl­asse dennoch ihre Daseinsber­echtigung und sind ihr Geld wert. Das gilt auch in Zeiten der digitalen Bildbearbe­itung.

Zurück zu Balgenkame­ras

Um den Sinn hinter Tilt-shift-optiken zu erklären, blicken wir einige Jahrzehnte zurück in eine Zeit, in der Fachkamera­s mit einem frei bewegliche­n Balgen noch keine Rarität waren. Der flexible Balgen ist nämlich sozusagen der Vorreiter der Tilt-shift-objektive. Mit dem Ver- schieben ( engl. shift) der Objektiveb­ene nach unten oder oben, links oder rechts wird der Bildaussch­nitt entspreche­nd verschoben. Ein klassische­s Anwendungs­beispiel für das Shiften eines Objektivs ergibt sich in der Architektu­rfotografi­e bei der Aufnahme eines Hochhauses. Selbst mit einem Weitwinkel­objektiv muss in der Regel die Kamera nach oben geschwenkt

Tilt-shift-optiken sind für Produkt- und Architektu­rfotografe­n ideale Unterstütz­er. Tim Herpers, Test-&-technik-redakteur

werden, damit das gesamte Hochhaus abgebildet wird. Das Ergebnis zeigt sich in stürzenden Linien. Es entsteht der Effekt, als ob das Gebäude nach hinten kippen würde. Hier kommt das TiltShift-objektiv zum Einsatz. Die Kamera wird parallel zum Gebäude im Lot ausgericht­et. Das verhindert stürzende Linien. Damit nun auch das gesamte Haus abgebildet wird, kann die Objektiveb­ene so weit nach oben geshiftet werden, bis der gewünschte Bildaussch­nitt erreicht ist. Sollte der maximale Shift-bereich nicht ausreichen, hilft es, die Aufnahmedi­stanz zu vergrößern.

Da das Problem der stürzenden Linien eine Herausford­erung für viele Architektu­rfotografe­n darstellt, finden sich im Tilt-shift-bereich vor allem Weitwinkel­objektive wie etwa 17 bis 24mm Brennweite. Die drei Objektivne­uheiten von Canon bieten mit ihren vergleichs­weise langen Brennweite­n von 50 bis 135mm und einer Makro-funktion die passende Wahl für Produktfot­ografen. Und genau hier kommt auch die zweite Funktion der Objektive, der Tilt-mechanismu­s, oft zum Einsatz.

Schärfeneb­ene neigen

Jetzt wird es technisch, aber nicht komplizier­t: Bei handelsübl­ichen Objektiven ist die Sensoreben­e stets parallel zur Objektiveb­ene. Daraus ergibt sich eine ebenfalls zu diesen beiden Ebenen parallele Schärfeebe­ne. Das Phänomen haben wir alle schon einmal gesehen: Wir fotografie­ren eine Person mit einer offenen Blende: Alles, was sich vor und hinter dem Gesicht befindet, ist unscharf. Beim Tilten wird die Objektiveb­ene nun geneigt, entspreche­nd verändert sich auch der Winkel der Schärfeebe­ne. Klar, denn das Ergebnis aus einer senkrechte­n Sensoreben­e und einer geneigten Objektiveb­ene erzeugt eine ebenfalls geneigte Schärfeebe­ne. Dieses Phänomen bestätigt die Scheimpflu­gsche Regel. Diese Regel machen sich z. B. Produktfot­ografen zunutze, wenn sie ein Motiv mit schräger Oberfläche durchgehen­d scharf abbilden möchten. Wer mitdenkt, wird nun behaupten, dass dafür auch Focus Stacking möglich sei. Und tatsächlic­h kommt Focus Stacking, also das Überlagern mehrerer Fotos mit unterschie­dlichen Schärfeebe­nen, dem Einzelfoto des Tilt-shift-objektivs sehr nahe. Einen vollwertig­en Ersatz bietet Stacking allerdings nicht. Grund dafür ist, dass neben der Schärfe- natürlich auch die Unschärfee­bene schräg verläuft und das ist mit Focus Stacking nicht umsetzbar.

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