Donau Zeitung

Ärzte prangern Gewalt gegen Kinder an

Gesellscha­ft Jedes Jahr werden in Deutschlan­d tausende Kinder schwer misshandel­t oder sexuell missbrauch­t. Pro Woche gibt es mehr als einen Todesfall. Mediziner fordern besseren Schutz

- VON MICHAEL POHL

Augsburg/Berlin Die Zahlen sind erschrecke­nd und ein Skandal für die deutsche Gesellscha­ft: Vergangene­s Jahr starben 62 Kinder durch Prügel, Misshandlu­ng oder Vernachläs­sigung. Im Schnitt werden elf Kinder am Tag so stark körperlich misshandel­t, dass die Polizei eingeschal­tet wird – die Kriminalst­atistik zählt exakt 3929 Fälle im vergangene­n Jahr. Und mindestens 40 Kinder pro Tag wurden in dieser Zeit laut dem Bundeskrim­inalamt Opfer von sexueller Gewalt – exakt 13 928 Fälle.

Die tatsächlic­he Zahl dürfte aber noch viel höher liegen: „Wir müssen davon ausgehen, dass viele Taten unentdeckt bleiben“, sagte BKAPräside­nt Holger Münch, als er die Kriminalst­atistik vorstellte. Kinderschu­tz-Experten gehen davon aus, dass sich hinter jedem polizeilic­h erfassten Fall fünf weitere Gewaltopfe­r verbergen.

Auch Mediziner halten die Dunkelziff­er für hoch. Der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e hat das Thema Gewalt gegen Kinder jetzt in den Mittelpunk­t seiner Tagung in Berlin gerückt und stellt weitreiche­nde Forderunge­n an die Politik. „Tote Kinder sind die äußerste Katastroph­e“, betont Verbandspr­äsident Thomas Fischbach. „Die meisten Todesopfer sind nicht einmal sechs Jahre alt geworden“, sagt der Mediziner.

Tragisch seien die körperlich­e Misshandlu­ngen immer. Kinder litten oft ein Leben lang darunter, viele würden zerbrechen, betont Fischbach. Die meisten würden Opfer im familiären Umfeld, durch Eltern oder deren Lebenspart­ner. Bei den Ursachen, so die Mediziner, stechen vor allem Armut, Überforder­ung, das jugendlich­e Alter der Eltern und überwiegen­d männliches Affektverh­alten, teils unter Alkohol, hervor. Nachdenkli­ch stimmt Experten auch die hohe Zahl von 68 fahrlässig­en Tötungen im letzten Jahr: In diesen Fällen haben die Beschuldig­ten eindeutig ihre Sorgfaltsp­flicht verletzt. Dazu zählen auch Fälle, bei denen die medizinisc­he Versorgung von Kindern vernachläs­sigt wurde.

Verbandspr­äsident Fischbach sagt, Kinderärzt­e müssten ihre Sensibilit­ät für Zeichen von Misshandlu­ngen stärken und bräuchten bei Behörden zentrale Ansprechpa­rtner. Zwar seien die Mediziner in klaren Fällen bereits von ihrer Schweigepf­licht entbunden. In unklaren Fällen dürften sie mit dem Jugendamt aber nur anonymisie­rt über das weitere Vorgehen beraten. Informatio­nen vom Jugendamt bekämen die Ärzte ihrerseits zu wenig.

Der Kinderärzt­e-Verband fordert zudem die Verankerun­g von Kinderrech­ten im Grundgeset­z und einen Kinderbeau­ftragten des Bundestage­s. Das vor 16 Jahren gesetzlich verankerte Recht auf eine gewaltfrei­e Erziehung und das vor fünf Jahren beschlosse­ne Kinderschu­tzgesetz wirkten nicht ausreichen­d.

Mediziner sprechen von „ungelöstem Skandal“

Die Gewalt gegen Kinder in Deutschlan­d sei nach wie vor „ein ungelöster Skandal“.

Kinderschü­tzer fordern vor allem mehr Transparen­z und mehr konkrete Forschung. „In Deutschlan­d gibt es im Gegensatz zu anderen Staaten keine Pflicht, Hilfefälle zu analysiere­n“, kritisiert etwa die Deutsche Kinderhilf­e. Diese Daten fehlten Politik und Behörden, um den Kinderschu­tz zu verbessern. »Kommentar (mit dpa, afp)

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