Im Tagesverlauf immer mehr Wolken
DGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitsplatz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 10,20 ¤ as taten sie ohne Bedauern; es blieb ihnen nichts übrig, und Juliana hatte bis auf die kurze Zeit in Kreuznach immer Mangel gelitten und dies, als Dauerzustand, gar nicht so empfunden. Auch daß er selten da war. Andere Männer waren auch nie bei ihrer Frau. Sie lumpten im Wirtshaus, daheim in Stainz, während Hugo immerhin politische Arbeit leistete, tagsüber und bis spät in die Nacht in einem Büro, dessen Beschaffenheit er aus Sicherheitsgründen nicht einmal ihr mitteilte; sie wußte nur, es war eine Anlaufstelle für Genossen, Frauen wie Männer, die aus Deutschland geflohen waren oder zur illegalen Arbeit dorthin zurückkehrten und für ihren Einsatz geschult wurden. Die Flüchtlinge mußten, soweit ihre Vertrauenswürdigkeit nicht außer Zweifel stand, genau überprüft werden, denn die Gestapo bemühte sich, Spitzel einzuschleusen.
Wer weiß, ob er für diese Tätigkeit überhaupt bezahlt wurde, vermutlich genauso wenig wie in Kreuznach als Stadtverordneter, jedenfalls nicht so, daß es zum Leben reichte. Jahre später, in Gestapohaft, gab er im Verhör an, in den ersten Monaten in Paris, bis zum Zerwürfnis, für einen jüdischen Kaufmann gearbeitet zu haben, als Packer und Bote in dessen Konfektionsgeschäft gegen einen Wochenlohn von hundert bis hundertdreißig Francs, eine Schutzbehauptung vermutlich, und daß er dessen Namen genannt hat, könnte bedeuten, daß er zu diesem Zeitpunkt schon wußte oder davon ausgehen konnte, daß der Mann emigriert, untergetaucht oder tot war.
Denkbar auch, daß dieser Jacques Burstein oder Burztein gar nicht sein Arbeitgeber war, sondern der von Juliana. Ihr Sohn erinnert sich, daß sie ihn manchmal, wenn sie niemanden fand, der oder die auf ihn aufgepaßt hätte, oder weil er schon alt und verständig genug war, sie zu begleiten, mitgenommen hat in das herrschaftliche Haus eines Lederhändlers. Scharfe Bilder, die er für mich sichtbar zu machen versucht, ein großes, in seiner Erinnerung riesiges Vestibül, von dem eine geschwungene Holztreppe in den ersten Stock hinaufführte, dort ein Saal, der belegt war mit Lederballen verschiedener Größen und Farben und erfüllt von einem Geruch, den er, sagt Hugo, heute noch wahrzunehmen meint. Oft hasteten Kunden oder Laufburschen mit einer Bestellung an dem Jungen vorbei, der auf der untersten Stufe saß und in der Maserung der gebeizten Bretter Wolken, Bäume, Landschaften zu entdecken glaubte, sich in diese Fantasiewelt versenkte und stundenlang nicht von der Stelle rührte, weil ihn die Mutter darum gebeten hatte, damit die Herrschaft keinen Anlaß fand, ihn wegzuschicken, während sie den Boden wischte, das Tuch in regelmäßigen Abständen über dem Wassereimer auswrang, den Eimer hin und wieder ausleerte, frisches Wasser nachfüllte, mit wunden, rotgescheuerten Händen, die sie später, zu Hause, eincremte, wobei er ihr zusah, diese sparsamen, selbstvergessenen Bewegungen, ehe sie den Deckel auf die Dose schraubte und ihm mit ihren Fingerspitzen über die Wangen strich, weil er danach verlangte. Zwischen Bodenwischen und Eincremen, auf dem Heimweg, wenn er vor Hunger und Durst weinte, gab sie ihm manchmal eine Münze - einen Batzi, sagte sie, Hugolein, da hast du einen Batzi, kauf uns was dafür.
Auf den wenigen Fotos aus den Jahren in Paris, aufgenommen mit der Kleinbildkamera eines Bekannten, Exilgenossen seines Vaters vermutlich, Ingenieurs, wie er später einmal aufgeschnappt hat, ist von ihrer Not nicht wirklich was zu merken.
Ein Vorfrühlingstag, die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Ein Park, ein Kiesweg, die Familie hübsch anzusehen in ihrer Sonntagstracht, seine Mutter in weißer kurzärmeliger Bluse, die Mütze keck übers linke Ohr gezogen, der Vater in offener Jacke und mit Krawatte, vor oder neben ihnen der kleine Hugo in kurzer Hose und weißen Strümpfen, ein wenig befangen angesichts des Fotografen, und weil er, um das Bild nicht zu verwackeln, stillhalten mußte. Dabei wäre er gern losgelaufen, zum kleinen Teich mit Springbrunnen, in dem er einmal ein Schiff schwimmen lassen durfte, das ihm sein Vater aus Rinde gebaut hatte. Ein Holzsplitter diente als Mast, ein Bindfaden als Halt für das Segel, das aus einem sorgfältig zurechtgeschnittenen Stück Papier bestand, vielleicht sogar aus der ,Trait d’Union‘, der Zeitung der Roten Hilfe, die Hugo Salzmann auf einem Abziehapparat vervielfältigt hatte, die halbe Nacht hindurch, damit das Blatt vor Beginn der Frühschicht an den Fabrikstoren von Renault verteilt werden konnte, was er später, im Verhör, auch zugeben wird, die Beweislage ist erdrückend, nur die Höhe der Auflage wird er nach unten korrigieren, es seien nie mehr als tausend Exemplare gewesen.
Die vage Erinnerung an ein Hotelzimmer mit abgestoßenen Tapeten, die Ahnung von vielen Zimmern in vielen Hotels. Die Eile, mit der die Eltern des Jungen ihre Habseligkeiten zusammenrafften, sooft sie vor einer Hausdurchsuchung gewarnt wurden. Die Flucht über Hintertreppe und Hof. Der Straßenlärm, der über sie zusammenschlug. Die Angst vor den Flics, die, in wasserdichte schwarze Capes gehüllt, lächerlich altmodische Kappen auf den Köpfen, paarweise Jagd auf Flüchtlinge machten; plötzlich ließen sie ihre Räder mitten auf die Fahrbahn fallen und stürzten auf Passanten zu.
Der verlockende Geruch in den Metroschächten, nach mehr als nur nach Gummi, Eisen, Schmieröl und Schweiß. Das Rattern der Triebwagen. Das Vorbeiwischen von Lichtern. Die Panikanfälle bei Dunkelheit, die sich damals bei ihm eingenistet haben. Das Gefühl der Geborgenheit, trotz allem, wenn er an der Hand seiner Mutter durch die Markthallen ging, ehe sie ihn vorschickte, wegen ihrer mangelhaften Französischkenntnisse und weil ein Kind mit großen Augen das Herz eines Krämers zu rühren vermag, und manchmal legte der Mann, nachdem er ein Achtel Butter abgewogen hatte, tatsächlich noch ein wenig dazu. Pour le gosse, wie er lächelnd sagte. Oder wenn der Vater ihn hochnahm und an sich drückte, dabei Wange an Wange rieb. Das Kitzeln der Bartstoppeln auf seiner zarten Haut, der herbe Duft von schwarzem Tabak, der Anblick der Rauchkringel, die sein Vater extra für ihn gegen die Decke blies, er konnte davon nicht genug bekommen.
Woran er sich nicht erinnern kann, was er erst im nachhinein erfahren wird, das ist die Tätigkeit seines Vaters im Auftrag der Emigrationsleitung der KPD, als Verantwortlicher für den Literaturvertrieb und als unerläßlicher Techniker, wie ihn Franz Dahlem – neben Siegfried Rädel, Heinrich Rau und Philipp Daub Mitglied der Pariser Parteileitung – in seinem Rückblick auf den ,Vorabend des zweiten Weltkrieges‘ bezeichnet hat; Hugo Salzmann war nicht nur geschickt darin, Druckmaschinen zu reparieren, Sicherungen zu flicken, Koffer mit doppelten Böden auszustatten.