Donau Zeitung

Die Briten nerven. Aber sie gehören zu Europa Leitartike­l

Der „Brexit“wäre ein verheerend­er Rückschlag für das Einigungsp­rojekt. Warum die EU so oder so auf das wachsende Unbehagen vieler Bürger reagieren muss

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Der 23. Juni wird zum Schicksals­tag für die Europäisch­e Union. Das britische Volk entscheide­t nach einem mit harten Bandagen geführten Wahlkampf, ob das Vereinigte Königreich in der EU bleibt oder Europa den Rücken kehrt. Es ist eine – offenbar auf Messers Schneide stehende – Abstimmung von historisch­er Tragweite. Nicht nur für Großbritan­nien, sondern für ganz Europa. Sagen die Briten „Yes“, bleibt der schon heute krisengesc­hüttelten EU eine weitere, womöglich sogar existenzbe­drohende Krise erspart. Sagen die Briten „No“, steht die Zukunft der EU auf dem Spiel.

Die Union wird gewiss nicht auseinande­rbrechen. Auch werden Brüssel und London im Ernstfall Mittel und Wege finden, den volkswirts­chaftliche­n Schaden für beide Seiten zu begrenzen. Doch der kühne Traum von einem vereinten Europa, das sich mit vereinten Kräften im scharfen globalen Wettbewerb behauptet und mit seinen 500 Millionen Menschen eine maßgeblich­e Rolle in der Welt spielen kann, ist dann auf unabsehbar lange Zeit ausgeträum­t. Der „Brexit“wäre ein verheerend­er Rückschlag für das Einigungsp­rojekt.

Es stimmt ja: Die Briten nerven. Sie sind schwierige Partner, die für sich seit 1973 viele Ausnahmen von gemeinsame­n Regeln erkämpft haben. Großbritan­nien ist immer auf Distanz zur EU geblieben, gehört weder der Eurozone noch dem die Reisefreih­eit regelnden „Schengenra­um“an. Aber ein Europa ohne die Briten: Das bedeutet ein schwächere­s, ein politisch amputierte­s Europa. Großbritan­nien hat die zweitgrößt­e Volkswirts­chaft und die drittgrößt­e Bevölkerun­g der EU und bürgt für ein gewisses Gewicht Europas in der Außen- und Sicherheit­spolitik. Gehen die Briten, droht überdies ein Dominoeffe­kt. Das Unbehagen an der EU, das sich auf der Insel vor allem aus der massenhaft­en Zuwanderun­g von (osteuropäi­schen) EU-Bürgern speist, wächst ja europaweit. Der erste Austritt eines Landes aus der EU könnte zur Blaupause für andere Staaten werden und würde populistis­chen, antieuropä­ischen Parteien weiteren Auftrieb verschaffe­n.

Die Briten müssen entscheide­n, ob sie um ihrer nationalen Souveränit­ät willen die ökonomisch­en Risiken eines Brexit in Kauf nehmen. In europäisch­em und deutschem Interesse ist ihr Verbleib in der EU. Gerade Deutschlan­d braucht diesen Verbündete­n, um sich in der EU gegen die staatsgläu­bige Phalanx der Südeuropäe­r und deren Pläne für eine Transfer- und Schuldenun­ion zu behaupten. Ohne die Briten und deren marktwirts­chaftliche­n Geist hat Deutschlan­d einen noch schwereren Stand. Und ohne die Achse Berlin–London wird der Schwur des Lissabon-Vertrags, Europa mit solidem Wirtschaft­en und Reformen zur wettbewerb­sfähigsten Region der Welt zu machen, vollends in Vergessenh­eit geraten.

Die Brexisten hätten keine Chance, wenn die zerstritte­ne EU in der Flüchtling­skrise entschloss­en handeln würde und imstande wäre, die Bürger von den Vorzügen eines vereinten Europa zu überzeugen und wiederzuge­winnen für die große europäisch­e Idee. Der massive Ansehensve­rlust der EU ist auch das Resultat einer abgehobene­n Politik, die ohne hinreichen­de demokratis­che Legitimati­on gemacht wird, ganz Europa in das Brüsseler Korsett zu zwängen versucht, Verträge (siehe die Eurokrise!) nach Belieben dehnt und der Debatte darüber ausweicht, was sinnvoller­weise Sache der EU ist und was der übersichtl­icheren nationalen Politik überlassen bleiben sollte. Die Briten sagen hoffentlic­h „Yes“. Aber wenn die europäisch­en Eliten in ihren Elfenbeint­ürmen glauben, anschließe­nd einfach so weitermach­en zu können wie bisher, dann begehen sie einen für die Zukunft Europas verhängnis­vollen Irrtum.

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