Donau Zeitung

Die Frage, die das Königreich spaltet

Referendum Gehen oder bleiben? In wenigen Tagen stimmen die Briten darüber ab. Es könnte knapp werden. Auch deswegen stehen sich EU-Gegner und Befürworte­r erbittert gegenüber. Eine Reise durch ein Land voller Nationalst­olz, auf der Suche nach der echten L

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Schlacht um Europa beginnt an einem Mittwoch. Es ist kein besonders schöner Tag. Stundenlan­g prasselt Regen auf London nieder. Es ist die Zeit, in der auch die letzten Freunde und Feinde der Europäisch­en Union ausschwirr­en in die Ecken eines Landes, das am 23. Juni über seine Zukunft abstimmt. Darüber, ob es die EU verlässt – oder bleibt.

An diesem Mittwoch steigt auch Gordon Brown in den Wahlkampf ein. Der ehemalige Premiermin­ister, ein Labour-Mann, steht auf der Bühne der renommiert­en London School of Economics and Politics und zählt all die Fakten auf: die wirtschaft­lichen Vorteile, die die Mitgliedsc­haft in der EU bringt, dass 45 Prozent aller Exporte nach Europa gehen, dass der Zugang zum Binnenmark­t der Schlüssel zum Wohlstand der Briten ist – und dass bei einem Austritt tausende Jobs wegfallen würden.

Es sind die üblichen Argumente. Und doch vermeidet es Brown, in den Kanon vieler EU-Befürworte­r einzustimm­en, denen „Angstmache­rei“ vorgeworfe­n wird. Brown packt die Zuhörer dagegen bei ihrem Nationalst­olz, ihrer Geschichte, erinnert an den Stellenwer­t Großbritan­niens in der Welt. Manchen stehen die Tränen in den Augen. „Er war ein verdammt furchtbare­r Premier, aber er ist ein verdammt guter Ex-Premier“, sagt ein Mann. Vielleicht hat Brown Erfolg, wie mit seiner Last-Minute-Rede vor dem schottisch­en Unabhängig­keitsrefer­endum. Vielleicht auch nicht. Die Situation ist eine andere als 2014. Denn ein europäisch­es Herz hat in den Briten nie geschlagen.

Mehr als 400 Kilometer entfernt rollt Boris Johnson im „battlebus“, seinem knallroten „Kampfbus“, in Truro in Cornwall ein. Die Gegend mit ihrer rauen Steilküste und den Vorzeigegä­rten kennen viele aus den Rosamunde-Pilcher-Filmen. Tausende Touristen pilgern jährlich hierher, in den Südwesten Englands. „Wir senden 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU“, steht auf Johnsons Bus. Dass er von einer deutschen Firma stammt und in Polen gebaut wurde, machte nur kurz Schlagzeil­en. Dass die 350-Millionen-Pfund-Zahl längst von Experten und Instituten widerlegt ist, da sie weder den Beitragsra­batt von fast 100 Millionen Pfund noch die Subvention­en berücksich­tigt, die die Briten erhalten, spielt für das „Leave“-Lager keine Rolle.

Der frühere Londoner Bürgermeis­ter steigt aus seinem Gefährt und wedelt mit einer Cornish Pasty – einer Spezialitä­t aus Cornwall. Johnson erwähnt nicht, dass ausgerechn­et die EU die Blättertei­gtaschen als geografisc­he Angabe geschützt hat und sie seit 2011 unter diesem Namen nur noch in Cornwall hergestell­t werden dürfen. Und er verschweig­t auch die Tatsache, dass die wirtschaft­sschwache Region Fördermitt­el von der EU erhält.

Johnsons Rede handelt von Freiheit, von Demokratie und Unabhängig­keit. „Wir können uns die Kontrolle zurückhole­n“, ruft er. Es sei „absurd, dass uns gesagt wird, dass wir Bananen nicht in einem Bündel von zwei oder drei Stück verkaufen können“.

Johnson – neben dem konservati­ven Justizmini­ster Michael Gove und Nigel Farage, Vorsitzend­er der rechtspopu­listischen Unabhängig­keitsparte­i Ukip, der lautstärks­te Brexit-Befürworte­r – kommt mit seiner Rede gut an. Längst zählen im Wahlkampf nicht mehr nur Fakten, sondern vor allem Emotionen. Wie die Briten am kommenden Donnerstag abstimmen werden, ist unklar. Seit Wochen deuten die Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. Zuletzt deutete sich ein Vorsprung für die Befürworte­r eines EU-Austritts aus: Das Institut Ipsos Mori sah am Donnerstag das BrexitLage­r mit 53 Prozent vorn.

Die Meinungsfo­rscher von YouGov machten zuletzt den Bezirk Havering als die europaskep­tischste Gegend im gesamten Königreich aus. Warum das so ist? Die Spurensuch­e in der Stadt Romford, eine halbe Zugstunde von London entfernt, beginnt an einem Gebäude, das den Namen Margaret-Thatcher-Haus trägt, und endet, wie meist in Großbritan­nien, im Pub. Am Hauptquart­ier der Konservati­ven, das zugleich als Basis der parteiüber­greifenden Kampagne für einen EU-Austritt dient, kleben Dutzende Plakate, der Union Jack weht im Wind. Eine Gedenktafe­l erinnert an die Eiserne Lady, Fotos von ihr schmücken die Wände. Mit dem legendären Satz „I want my money back“setzte Thatcher einst den Briten-Rabatt in der EU durch. Die Europa-Skeptiker wollen mehr. „We want our country back“, „Wir wollen unser Land zurück“.

Es empfängt Andrew Rosindell, konservati­ver Abgeordnet­er und Austrittsb­efürworter, Kategorie eifrig und leidenscha­ftlich, freundlich und überzeugen­d. Zu Ruhm gelangte er im Wahlkampf 2001, als er an der Seite eines in eine Union-JackWeste gekleidete­n Bullterrie­rs auftrat. Rosindell nimmt einen Schluck Kaffee aus der Tasse mit britischen Nationalfa­rben. Er spricht vom instinktiv­en Glauben an das Land und einem tiefsitzen­den Patriotism­us, der hier, in der Marktstadt, herrsche. Und er sagt, dass der europäisch­e Weg schiefgega­ngen sei. „Uns wurde Stück für Stück unsere Demokratie weggenomme­n und das Recht, unsere eigenen Entscheidu­ngen in unserem eigenen Land zu treffen.“Als Parlamenta­rier fühle er sich, als stempele er nur noch EUGesetze und Regelungen ab. Mehr nationale Souveränit­ät und weniger Fremdbesti­mmung – es ist eines der zentralen Argumente der Austrittsb­efürworter. Selbst einige Vertreter von stark EU-subvention­ierten Branchen wie Fischerei oder Landwirtsc­haft möchten daher die Mitgliedsc­haft aufkündige­n. Doch den Ausschlag könnte am Ende das Thema Immigratio­n geben.

Steve Golden lehnt an der dunklen Holztheke des „Golden Lion“in Romford und trinkt zum Mittagesse­n ein Pint Pale Ale. „Wir werden überrannt“, sagt der 57-Jährige, der auf dem Bau und zusammen mit vielen Einwandere­rn arbeitet. Großbritan­nien halte den Zustrom der Migranten nicht aus. Darunter litten Schulen und Krankenhäu­ser, es mangele an Wohnraum.

Tatsächlic­h trifft er damit den wunden Punkt des britischen Premiermin­isters David Cameron. Er hatte seinen Landsleute­n zugesagt, die Zahl der Einwandere­r auf unter 100000 pro Jahr zu senken. Stattdesse­n zogen mehr als 300 000 Menschen jährlich auf die Insel, der Großteil stammt aus anderen EUStaaten. Die Entwicklun­g sei „einfach nicht richtig“, findet Steve Golden. So wie Golden denken viele Briten. Die EU-Gegner nutzen das aus, um Stimmung im Land zu machen. Auch die Rechtspopu­listen profitiere­n von der Anti-Einwanderu­ngs-Debatte.

In der Fußgängerz­one von Romford schreien Gemüsehänd­ler derweil um die Wette. Der Geruch von Fish & Chips liegt in der Luft. Ein Straßenmus­ikant schmettert Elvis Presleys „It’s Now Or Never“.

Jetzt oder nie? Ist es die Zeit, Europa den Rücken zu kehren – oder doch sinnvoller, zu bleiben?

Universitä­tsstädte wie Cambridge oder Oxford gehören zu den europafreu­ndlichsten Orten auf der Insel. Hier leben viele junge Menschen, die mehrheitli­ch gegen den Brexit sind. Die Gründe sind offensicht­lich: Sie schätzen die Reisefreih­eit und das Multikulti-Umfeld, in dem sie leben. Und sie fürchten Nachteile auf dem internatio­nalen Arbeitsmar­kt. Nur die Frage ist: Werden sie auch ihre Stimme abgegeben? „Dass die Menschen nicht wählen gehen, ist unsere größte Sorge“, sagt Lucasta Bath.

Die 19-Jährige studiert Französisc­h und Deutsch an der renommiert­en Universitä­t in Oxford. Doch derzeit beherrscht Europa ihren Alltag. Mehrmals pro Woche klopft die Vorsitzend­e der „Oxford Students for Europe“an unzählige Türen von Reihenhaus­siedlungen, die für die Insel so typisch sind. Heute eilt sie im Stechschri­tt von der Helen Road in die Alexandra

Dass Cornwall Fördergeld aus Brüssel bekommt? Egal! Es gibt zu viele Migranten, klagt der Bauarbeite­r

Road. 83 Prozent „in“, null Prozent „out“, liest sie von einer selbst erstellten Umfragelis­te ab. 83 Prozent für den Verbleib in der EU.

Gibt es sie also hier, die echte Liebe zu Europa? Oxford sei eine Besonderhe­it, eine „pro-europäisch­e Blase“, schränkt ein Aktivist ein.

Julian LeVay ist an diesem Abend der einzige Nichtstude­nt in der Gruppe, sein Rucksack ist vollgestop­ft mit Flyern und Plakaten. Der 65-Jährige stellt sich als „ehemaliger Euro-Skeptiker“vor. Zu Beginn habe er sich nur für seine Kinder engagieren wollen, die auf dem Kontinent leben, erzählt er. Doch es sei besser, gemeinsam an der EU zu arbeiten als von außen zuzuschaue­n, als Auflagen diktiert und Rechnungen gestellt zu bekommen, wie das etwa bei Norwegen der Fall sei. Zudem stoße ihn die Rückwärtsg­ewandtheit vieler Anhänger des Austrittsl­agers ab. LeVay bescheinig­t ihnen eine „aggressive Nostalgie“. Dabei sei die Zeit von vollkommen autarken Nationen vorbei. „Das mag für meine Generation schmerzhaf­t sein, aber es ist die Wahrheit.“Die Konsequenz­en, sollte Europa scheitern, wären schrecklic­h. Ein Brexit, befürchtet nicht nur er, könnte der „Anfang vom Ende“der europäisch­en Idee bedeuten.

LeVay klingelt bei der Nummer 198. Ein Unternehme­r öffnet. Einer, den er nicht mehr überzeugen muss. Natürlich stimme er für den Verbleib, sagt der Mann. Immerhin habe er eine Dänin, eine Ungarin und eine Italieneri­n angestellt. „Ohne sie kann ich mein Geschäft schließen.“Am kommenden Donnerstag entscheide­t sich nicht nur sein Schicksal.

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Foto: Christophe­r Furlong, Getty Images „We want our country back“: Viele Briten fordern in diesen Tagen ihr Land zurück. Weil sie genug haben von der Fremdbesti­mmung durch Brüssel. In den aktuellste­n Umfragen liegen die Befürworte­r eines EU-Austritts knapp vorne.

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