Großbritannien weint
Mordanschlag Warum musste die Abgeordnete Jo Cox sterben? Die Polizei schweigt. Über den mutmaßlichen Täter wird dennoch immer mehr bekannt. Auch über seine Kontakte zu Neonazis
London Die Trauer, sie ist ganz leise. Und doch kann sie so groß sein, dass sie ein ganzes Land in den Stillstand versetzt. Großbritannien weint, nachdem am Donnerstag die Labour-Abgeordnete Jo Cox auf offener Straße ermordet worden ist. Vor dem Westminster-Palast in London legten tausende Menschen Blumen nieder, genauso wie in dem kleinen nordenglischen Städtchen Birstall, wo die Politikerin niedergeschossen, niedergestochen, niedergetreten wurde, wo die 41-Jährige wenig später im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag.
Die Flaggen vor dem Regierungsgebäude in der Hauptstadt wehten auf halbmast, überall lagen sich Menschen schluchzend in den Armen, Passanten zündeten Kerzen an. Mit gebrochenen Stimmen zollten Freunde und Kollegen aller Parteien Cox Anerkennung und lobten sowohl den Menschen als auch die Politikerin für „ihr großes Herz und ihre Leidenschaft“. Der hitzig geführte Wahlkampf nur wenige Tage vor dem Referendum über die Mitgliedschaft des Königreichs in der EU wurde bis Samstag ausgesetzt.
Dafür reisten Premierminister David Cameron und Labour-Chef Jeremy Corbyn nach Birstall. Der Sozialdemokrat verurteilte den Mord als „Anschlag auf die Demo- kratie“. Cox, die mit ihrem Mann Brendan zwei Kinder hatte, sei durch eine „Quelle von Hass“getötet worden. Am Montag findet eine Gedenkstunde zu ihren Ehren statt. Der Premier hatte diese auf Corbyns Wunsch hin einberufen. Neben so ziemlich allen Abgeordneten zeigte sich auch Cameron erschüttert und warb für Toleranz: „Wo wir Hass sehen, wo wir Spaltung sehen, wo wir Intoleranz sehen, müssen wir diese zurückdrängen.“Politische Zwistigkeiten spielen in diesen Tagen keine Rolle, Westminster zeigt sich pietätvoll und vereint in der Trauer über den tragischen Verlust der Kollegin.
Doch wer ist der 52-Jährige, der kurz nach der Tat festgenommen und als Thomas Mair identifiziert wurde? Unaufhörlich stellten die Medien diese Frage, als würde eine Antwort das Unerklärliche erklären. Doch zunächst schwieg die Polizei über mögliche Hintergründe.
Trotzdem verbreiteten sich immer mehr Details über den Mann, der von Nachbarn als unauffälliger Einzelgänger beschrieben wurde, „der oft einfach nur in seinem Garten sitzt“. Einer, der „mal eine Freundin hatte, als er jünger war“, die ihm jedoch ein Kumpel ausgespannt hat. Einer, der seit seiner Jugend im selben Haus einer Sozialsiedlung wohnte, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, kaum Alkohol trank und keine Drogen nahm, wie Nachbar Stephen Lees erzählte. „Er war nett, diskret und zurückgezogen.“Eine Familienfreundin rang mit den Worten: „Mir tut das so leid. Er wirkte wie ein ganz normaler Mensch.“
Laut einer Anti-Rassismus-Organisation hat er jedoch jahrzehntelang die US-Neonazi-Gruppierung National Alliance unterstützt. Medien berichteten, dass der 52-Jährige früher die Zeitschrift SA Patriot abonniert hatte – ein rassistisches Blatt, das von einer Pro-ApartheidGruppe herausgegeben worden sei.
Mehrere Augenzeugen wurden bereits am Donnerstag zitiert, nach denen der Angreifer „Britain first“(„Großbritannien zuerst“) gerufen haben soll, was wiederum auf eine politisch motivierte Tat deuten könnte. „Britain First“ist der Name einer rechtsradikalen Partei. Gleichwohl nutzen auch einige Brexit-Befürworter gerne diesen Slogan.
Spekulationen machten daher die Runde, nach denen die Attacke in Verbindung mit Cox’ Engagement für Flüchtlinge oder ihren Wahlkampf für den Verbleib des Landes in der EU stehen könnte. Scott Mair dagegen betonte, sein Bruder sei „nicht gewalttätig und nicht besonders politisch“gewesen. Dafür kämpfe er mit psychischen Problemen, weshalb er in Behandlung gewesen sei.
Ist er tatsächlich krank? Oder zog die Politik der leidenschaftlichen Europäerin Cox seinen Hass auf sich? Die zweifache Mutter arbeitete vor ihrer Politkarriere bei der Menschenrechtsorganisation Oxfam, stand an der Spitze der überparteilichen Parlamentariergruppe „Friends of Syria“, verteidigte Immigration und setzte sich für Flüchtlinge ein. Musste sie wegen ihres Einsatzes sterben?
Am Freitag wurde bekannt, dass Jo Cox bereits im März „bösartige Nachrichten“erhalten habe. Die Labour-Politikerin, die erst im vergangenen Jahr zum ersten Mal ins Parlament einzog, meldete die Drohungen bei der Polizei, woraufhin ein Mann vorübergehend in Gewahrsam genommen wurde. Dabei handelte es sich jedoch nicht um den mutmaßlichen Angreifer von Birstall, hieß es nun von den Behörden.
Bis die ganze Wahrheit ans Licht kommt, werden wohl noch einige Tage vergehen. Dann sind die Briten auch aufgerufen, in einem historischen Referendum über die Zukunft ihres Landes in der EU zu entscheiden. Derzeit aber steht das Land einfach nur still. Auf der Insel ist es leise geworden.
Kampagne für Referendum zum EU-Austritt ruht weiter