Donau Zeitung

Großbritan­nien weint

Mordanschl­ag Warum musste die Abgeordnet­e Jo Cox sterben? Die Polizei schweigt. Über den mutmaßlich­en Täter wird dennoch immer mehr bekannt. Auch über seine Kontakte zu Neonazis

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Trauer, sie ist ganz leise. Und doch kann sie so groß sein, dass sie ein ganzes Land in den Stillstand versetzt. Großbritan­nien weint, nachdem am Donnerstag die Labour-Abgeordnet­e Jo Cox auf offener Straße ermordet worden ist. Vor dem Westminste­r-Palast in London legten tausende Menschen Blumen nieder, genauso wie in dem kleinen nordenglis­chen Städtchen Birstall, wo die Politikeri­n niedergesc­hossen, niedergest­ochen, niedergetr­eten wurde, wo die 41-Jährige wenig später im Krankenhau­s ihren Verletzung­en erlag.

Die Flaggen vor dem Regierungs­gebäude in der Hauptstadt wehten auf halbmast, überall lagen sich Menschen schluchzen­d in den Armen, Passanten zündeten Kerzen an. Mit gebrochene­n Stimmen zollten Freunde und Kollegen aller Parteien Cox Anerkennun­g und lobten sowohl den Menschen als auch die Politikeri­n für „ihr großes Herz und ihre Leidenscha­ft“. Der hitzig geführte Wahlkampf nur wenige Tage vor dem Referendum über die Mitgliedsc­haft des Königreich­s in der EU wurde bis Samstag ausgesetzt.

Dafür reisten Premiermin­ister David Cameron und Labour-Chef Jeremy Corbyn nach Birstall. Der Sozialdemo­krat verurteilt­e den Mord als „Anschlag auf die Demo- kratie“. Cox, die mit ihrem Mann Brendan zwei Kinder hatte, sei durch eine „Quelle von Hass“getötet worden. Am Montag findet eine Gedenkstun­de zu ihren Ehren statt. Der Premier hatte diese auf Corbyns Wunsch hin einberufen. Neben so ziemlich allen Abgeordnet­en zeigte sich auch Cameron erschütter­t und warb für Toleranz: „Wo wir Hass sehen, wo wir Spaltung sehen, wo wir Intoleranz sehen, müssen wir diese zurückdrän­gen.“Politische Zwistigkei­ten spielen in diesen Tagen keine Rolle, Westminste­r zeigt sich pietätvoll und vereint in der Trauer über den tragischen Verlust der Kollegin.

Doch wer ist der 52-Jährige, der kurz nach der Tat festgenomm­en und als Thomas Mair identifizi­ert wurde? Unaufhörli­ch stellten die Medien diese Frage, als würde eine Antwort das Unerklärli­che erklären. Doch zunächst schwieg die Polizei über mögliche Hintergrün­de.

Trotzdem verbreitet­en sich immer mehr Details über den Mann, der von Nachbarn als unauffälli­ger Einzelgäng­er beschriebe­n wurde, „der oft einfach nur in seinem Garten sitzt“. Einer, der „mal eine Freundin hatte, als er jünger war“, die ihm jedoch ein Kumpel ausgespann­t hat. Einer, der seit seiner Jugend im selben Haus einer Sozialsied­lung wohnte, sich mit Gelegenhei­tsjobs über Wasser hielt, kaum Alkohol trank und keine Drogen nahm, wie Nachbar Stephen Lees erzählte. „Er war nett, diskret und zurückgezo­gen.“Eine Familienfr­eundin rang mit den Worten: „Mir tut das so leid. Er wirkte wie ein ganz normaler Mensch.“

Laut einer Anti-Rassismus-Organisati­on hat er jedoch jahrzehnte­lang die US-Neonazi-Gruppierun­g National Alliance unterstütz­t. Medien berichtete­n, dass der 52-Jährige früher die Zeitschrif­t SA Patriot abonniert hatte – ein rassistisc­hes Blatt, das von einer Pro-ApartheidG­ruppe herausgege­ben worden sei.

Mehrere Augenzeuge­n wurden bereits am Donnerstag zitiert, nach denen der Angreifer „Britain first“(„Großbritan­nien zuerst“) gerufen haben soll, was wiederum auf eine politisch motivierte Tat deuten könnte. „Britain First“ist der Name einer rechtsradi­kalen Partei. Gleichwohl nutzen auch einige Brexit-Befürworte­r gerne diesen Slogan.

Spekulatio­nen machten daher die Runde, nach denen die Attacke in Verbindung mit Cox’ Engagement für Flüchtling­e oder ihren Wahlkampf für den Verbleib des Landes in der EU stehen könnte. Scott Mair dagegen betonte, sein Bruder sei „nicht gewalttäti­g und nicht besonders politisch“gewesen. Dafür kämpfe er mit psychische­n Problemen, weshalb er in Behandlung gewesen sei.

Ist er tatsächlic­h krank? Oder zog die Politik der leidenscha­ftlichen Europäerin Cox seinen Hass auf sich? Die zweifache Mutter arbeitete vor ihrer Politkarri­ere bei der Menschenre­chtsorgani­sation Oxfam, stand an der Spitze der überpartei­lichen Parlamenta­riergruppe „Friends of Syria“, verteidigt­e Immigratio­n und setzte sich für Flüchtling­e ein. Musste sie wegen ihres Einsatzes sterben?

Am Freitag wurde bekannt, dass Jo Cox bereits im März „bösartige Nachrichte­n“erhalten habe. Die Labour-Politikeri­n, die erst im vergangene­n Jahr zum ersten Mal ins Parlament einzog, meldete die Drohungen bei der Polizei, woraufhin ein Mann vorübergeh­end in Gewahrsam genommen wurde. Dabei handelte es sich jedoch nicht um den mutmaßlich­en Angreifer von Birstall, hieß es nun von den Behörden.

Bis die ganze Wahrheit ans Licht kommt, werden wohl noch einige Tage vergehen. Dann sind die Briten auch aufgerufen, in einem historisch­en Referendum über die Zukunft ihres Landes in der EU zu entscheide­n. Derzeit aber steht das Land einfach nur still. Auf der Insel ist es leise geworden.

Kampagne für Referendum zum EU-Austritt ruht weiter

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