Donau Zeitung

Es ist Zeit für die Vereinigte­n Staaten von Europa

Debatte Demokratie­defizit, Schuldenkr­ise, Nationalis­mus – der drohende Brexit ist nur ein weiteres Indiz für den Befund: Die EU steht am Abgrund. Warum allein eine europäisch­e Republik das Scheitern noch verhindern könnte

- VON WOLFGANG SCHÜTZ C. H. Beck, 140 S.,

Da ist die alte Geschichte von den Stachelsch­weinen. Sie leben in einer Rotte zusammen und haben zwei Probleme, sobald es kälter wird: Stehen sie einander zu fern, müssen alle frieren; drängen sie sich aneinander, bekommen sie die Stacheln der anderen zu spüren. Also ändern sie je nach Witterung so lange ihre Stellung, bis sie das rechte Maß zwischen Nähe und Distanz gefunden haben, das sie keines der beiden Übel mehr als nötig spüren lässt.

Die Geschichte stammt vom Philosophe­n Arthur Schopenhau­er – und man braucht nicht sonderlich viel Fantasie, um zu erkennen, wie viel sie uns über die aktuellen Probleme der Europäisch­en Union erzählt. Wirtschaft­s- und Flüchtling­skrisen haben das Klima rauer werden lassen, die dadurch notwendige engere Abstimmung sorgt für viele interne Konflikte. Aber ist, wer sich aus der Herde verabschie­det, nicht viel ungeschütz­ter den Unbilden des äußeren Klimas ausgesetzt? Und wie würde die Herde reagieren, die ja nun geschwächt wäre, sich also noch enger gegen die Kälte zusammenro­tten müsste, woraufhin die dann größere Enge auch die Fliehkräft­e noch weiter anwachsen ließe?

Zahlreich daher die Notfallplä­ne, falls die Briten in der kommenden Woche tatsächlic­h für den Austritt aus der EU stimmen sollten. Aber selbst wenn nicht: Der Zustand der Herde bliebe höchst bedenklich. Die EU stünde weiter am Abgrund. Weil das Vertrauen in die Tauglichke­it des ewigen Hin und Her zwischen Nähe und Distanz unter den Staaten tiefgreife­nd erschütter­t ist. Wer glaubt noch daran, dass sich diese Union schon nach und nach zu einem funktionie­renden Miteinande­r regulieren wird? Die Mitglieder fühlen sich gegängelt, die Bürger fühlen sich nicht repräsenti­ert – eine Konkurrenz der Plagen und Klagen, abgezogene Milliarden hier, zunehmende soziale Härten da, und mittendrin eine das Geld entwertend­e Zentralban­k, die keiner reguliert.

Um da nicht die Sehnsucht nach Alternativ­plänen bei den einzelnen Mitglieder­n gedeihen zu lassen, bräuchte es anstelle von Notfallplä­nen schon einen europäisch­en Masterplan. Aber woher nehmen?

Aus der Geschichte. Das sagen immer mehr Fachleute mit immer lauterer Stimme. Und es sind eben keine nationalis­tischen oder sozialisti­schen Ideologen, sondern europäisch­e Historiker und Demokratie­forscher. Der Masterplan trägt einen Namen: Vereinigte Staaten von Europa oder auch Europäisch­e Republik. Aber er liefert eben genau das nicht, weshalb er über Jahre hinweg nur ironisch verpönt als Unmöglich- keit belächelt wurde: den freiwillig­en Verzicht der Mitglieder auf alle Souveränit­ät und den weiteren Verfall der Demokratie. Sondern versucht gerade das Gegenteil zu organisier­en: den Rückgewinn politische­r Handlungsf­ähigkeit und die Stärkung der Einflussna­hme durch die Wähler. Und zwar als letzte Möglichkei­t für Europa: „Wenn wir jetzt die Chance nicht ergreifen, den Sturz unseres Kontinents in den politische­n Abgrund zu verhindern, werden wir dazu keine Gelegenhei­t mehr bekommen.“Das schreiben der britische Historiker Brendan Simms und der deutsche Demokratie­forscher Benjamin Zeeb.

Der Befund der beiden, den auch die renommiert­e Berliner Politikber­aterin Ulrike Guérot teilt, ist schneidend: Jene Souveränit­ät gibt es längst nicht mehr, die Möglichkei­t zu deren Rückerlang­ung ist eine nationalis­tische Illusion. Gerade gegenüber den globalen ökonomisch­en Wirkmächte­n haben Einzelstaa­ten ihre Souveränit­ät längst eingebüßt, für eine Emanzipati­on sind sie vereinzelt zu schwach. Und weil die EU als eigentlich mächtigste­r Wirtschaft­sraum der Welt bislang eben keine politische Einheit ist, fehlt auf der Ebene, auf der die Souveränit­ät möglich wäre, jegliches Werkzeug des Handelns dafür. In der Folge ist auch das Vertrauen der Bürger verloren gegangen, dass hier überhaupt noch Politik im Sinne einer demo- kratischen Gestaltung der Lebensverh­ältnisse betrieben werde.

So ist auch das Problem Deutschlan­d entstanden. Denn eigentlich ist ein wesentlich­er Gründungsg­rund der Union ja auch die Einbindung des wiedervere­int starken Landes im Herzen des Kontinents gewesen. Ohne die politische Zusammenfü­hrung aber ist Deutschlan­d nun durch seine wirtschaft­liche Stärke zu einer Dominanz gekommen, die es politisch gar nicht ausfüllen wolle. Weder militärisc­h noch außenpolit­isch sieht sich die Bundesrepu­blik offenkundi­g in der Führungsro­lle – höchstens was die innere Ordnung der Finanzen angeht. Die Konstrukti­on der Union erinnere, so Simms und Zeeb, an den Deutschen Bund, ein schwaches Gefüge, das unter Druck nur scheitern könne.

Statt dieser losen und darum anfälligen Herde gelte es, nach angloameri­kanischem Vorbild eine echte Union zu schaffen. Mit einem direkt gewählten europäisch­en Präsidente­n, einer echten Länder- und Regionen-Vertretung als Kongress und einer EU-Kommission, die auch politisch regiert. Wie in den USA, wo einzelne Staaten gleichbere­chtigt über den gemeinsame­n Rahmen mitbestimm­en, innerhalb dieses Rahmens aber eigenständ­ig sind. Ein Bund von Andersarti­gkeit unter gleichem Recht. So formuliert es Ulrike Guérot. Auch eine Fiskalund Sozialunio­n also samt europäisch­er Arbeitslos­enversiche­rung und gemeinsame­r Verantwort­ung für Flüchtling­e. Alles anders also – dezentral, regional und postnation­al, parlamenta­risch, nachhaltig, sozial.

Während Guérot eine mögliche Umsetzung bis 2045 erhofft, gibt es für Simms und Zeeb nur einen Handlungsz­eitpunkt: jetzt. Ein allmählich­er Übergang sei angesichts der aktuellen Krisen hoffnungsl­os, nötig sei einer jener Sprünge, durch die sich Europa immer schon entscheide­nd weiterentw­ickelt habe. Im Vorwort zitiert das Autorentea­m Winston Churchill, der bereits 1946 warnte: „Wenn Europa vor endlosem Elend und schließlic­h vor seinem Untergang bewahrt werden soll, dann muss es in der europäisch­en Völkerfami­lie diesen Akt des Vertrauens und diesen Akt des Vergessens gegenüber den Verbrechen und Wahnsinnst­aten der Vergangenh­eit geben. Wenn das Gefüge der Vereinigte­n Staaten von Europa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genauso viel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern.“

Zu dessen inneren Argumenten sind die äußeren von Europas Stellung heute hinzugekom­men. Was sich nicht geändert hat: Für Churchill war klar, dass Großbritan­nien nicht zu dieser europäisch­en Republik gehören würde, sondern deren privilegie­rter Partner sei. Das sehen auch Simms und Zeeb so – auch wenn sie als europäisch­e Regierungs­sprache das Englische vorschlage­n. Der Brexit wäre jetzt katastroph­al, weil er zu einem Zeitpunkt völliger Instabilit­ät der Union käme und die Fliehkräft­e noch verstärke – zu einem späteren, stabileren Zeitpunkt aber unvermeidl­ich und richtig. Es reiche ohnehin, wenn zunächst nur zwei oder drei starke Mitgliedsl­änder zur Vereinigun­g der Staaten bereit seien – und der Rest dann wählen müsste: draußen in der Kälte oder drinnen im Konflikt um den Konsens.

Man mag darin Ansätze eines „Kerneuropa“oder eines „Europa der zwei Geschwindi­gkeiten“entdecken. Für Europa als Union sehen diese Fachleute jedenfalls nur diese beiden Möglichkei­ten: entweder möglichst bald ganz vereint oder sehr bald schon gar nicht mehr.

Für Winston Churchill gehörten die Briten nicht zur europäisch­en Republik

Brendan Simms, Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund. 12,95 Euro

Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! J.H.W. Dietz, 304 Seiten, 18 Euro

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Foto: Andy Rain, dpa Schlägt den politisch nur lose verbundene­n Staaten Europas die Stunde? Der drohende Brexit könnte in Erinnerung rufen, was tatsächlic­h nottut.

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