Es ist Zeit für die Vereinigten Staaten von Europa
Debatte Demokratiedefizit, Schuldenkrise, Nationalismus – der drohende Brexit ist nur ein weiteres Indiz für den Befund: Die EU steht am Abgrund. Warum allein eine europäische Republik das Scheitern noch verhindern könnte
Da ist die alte Geschichte von den Stachelschweinen. Sie leben in einer Rotte zusammen und haben zwei Probleme, sobald es kälter wird: Stehen sie einander zu fern, müssen alle frieren; drängen sie sich aneinander, bekommen sie die Stacheln der anderen zu spüren. Also ändern sie je nach Witterung so lange ihre Stellung, bis sie das rechte Maß zwischen Nähe und Distanz gefunden haben, das sie keines der beiden Übel mehr als nötig spüren lässt.
Die Geschichte stammt vom Philosophen Arthur Schopenhauer – und man braucht nicht sonderlich viel Fantasie, um zu erkennen, wie viel sie uns über die aktuellen Probleme der Europäischen Union erzählt. Wirtschafts- und Flüchtlingskrisen haben das Klima rauer werden lassen, die dadurch notwendige engere Abstimmung sorgt für viele interne Konflikte. Aber ist, wer sich aus der Herde verabschiedet, nicht viel ungeschützter den Unbilden des äußeren Klimas ausgesetzt? Und wie würde die Herde reagieren, die ja nun geschwächt wäre, sich also noch enger gegen die Kälte zusammenrotten müsste, woraufhin die dann größere Enge auch die Fliehkräfte noch weiter anwachsen ließe?
Zahlreich daher die Notfallpläne, falls die Briten in der kommenden Woche tatsächlich für den Austritt aus der EU stimmen sollten. Aber selbst wenn nicht: Der Zustand der Herde bliebe höchst bedenklich. Die EU stünde weiter am Abgrund. Weil das Vertrauen in die Tauglichkeit des ewigen Hin und Her zwischen Nähe und Distanz unter den Staaten tiefgreifend erschüttert ist. Wer glaubt noch daran, dass sich diese Union schon nach und nach zu einem funktionierenden Miteinander regulieren wird? Die Mitglieder fühlen sich gegängelt, die Bürger fühlen sich nicht repräsentiert – eine Konkurrenz der Plagen und Klagen, abgezogene Milliarden hier, zunehmende soziale Härten da, und mittendrin eine das Geld entwertende Zentralbank, die keiner reguliert.
Um da nicht die Sehnsucht nach Alternativplänen bei den einzelnen Mitgliedern gedeihen zu lassen, bräuchte es anstelle von Notfallplänen schon einen europäischen Masterplan. Aber woher nehmen?
Aus der Geschichte. Das sagen immer mehr Fachleute mit immer lauterer Stimme. Und es sind eben keine nationalistischen oder sozialistischen Ideologen, sondern europäische Historiker und Demokratieforscher. Der Masterplan trägt einen Namen: Vereinigte Staaten von Europa oder auch Europäische Republik. Aber er liefert eben genau das nicht, weshalb er über Jahre hinweg nur ironisch verpönt als Unmöglich- keit belächelt wurde: den freiwilligen Verzicht der Mitglieder auf alle Souveränität und den weiteren Verfall der Demokratie. Sondern versucht gerade das Gegenteil zu organisieren: den Rückgewinn politischer Handlungsfähigkeit und die Stärkung der Einflussnahme durch die Wähler. Und zwar als letzte Möglichkeit für Europa: „Wenn wir jetzt die Chance nicht ergreifen, den Sturz unseres Kontinents in den politischen Abgrund zu verhindern, werden wir dazu keine Gelegenheit mehr bekommen.“Das schreiben der britische Historiker Brendan Simms und der deutsche Demokratieforscher Benjamin Zeeb.
Der Befund der beiden, den auch die renommierte Berliner Politikberaterin Ulrike Guérot teilt, ist schneidend: Jene Souveränität gibt es längst nicht mehr, die Möglichkeit zu deren Rückerlangung ist eine nationalistische Illusion. Gerade gegenüber den globalen ökonomischen Wirkmächten haben Einzelstaaten ihre Souveränität längst eingebüßt, für eine Emanzipation sind sie vereinzelt zu schwach. Und weil die EU als eigentlich mächtigster Wirtschaftsraum der Welt bislang eben keine politische Einheit ist, fehlt auf der Ebene, auf der die Souveränität möglich wäre, jegliches Werkzeug des Handelns dafür. In der Folge ist auch das Vertrauen der Bürger verloren gegangen, dass hier überhaupt noch Politik im Sinne einer demo- kratischen Gestaltung der Lebensverhältnisse betrieben werde.
So ist auch das Problem Deutschland entstanden. Denn eigentlich ist ein wesentlicher Gründungsgrund der Union ja auch die Einbindung des wiedervereint starken Landes im Herzen des Kontinents gewesen. Ohne die politische Zusammenführung aber ist Deutschland nun durch seine wirtschaftliche Stärke zu einer Dominanz gekommen, die es politisch gar nicht ausfüllen wolle. Weder militärisch noch außenpolitisch sieht sich die Bundesrepublik offenkundig in der Führungsrolle – höchstens was die innere Ordnung der Finanzen angeht. Die Konstruktion der Union erinnere, so Simms und Zeeb, an den Deutschen Bund, ein schwaches Gefüge, das unter Druck nur scheitern könne.
Statt dieser losen und darum anfälligen Herde gelte es, nach angloamerikanischem Vorbild eine echte Union zu schaffen. Mit einem direkt gewählten europäischen Präsidenten, einer echten Länder- und Regionen-Vertretung als Kongress und einer EU-Kommission, die auch politisch regiert. Wie in den USA, wo einzelne Staaten gleichberechtigt über den gemeinsamen Rahmen mitbestimmen, innerhalb dieses Rahmens aber eigenständig sind. Ein Bund von Andersartigkeit unter gleichem Recht. So formuliert es Ulrike Guérot. Auch eine Fiskalund Sozialunion also samt europäischer Arbeitslosenversicherung und gemeinsamer Verantwortung für Flüchtlinge. Alles anders also – dezentral, regional und postnational, parlamentarisch, nachhaltig, sozial.
Während Guérot eine mögliche Umsetzung bis 2045 erhofft, gibt es für Simms und Zeeb nur einen Handlungszeitpunkt: jetzt. Ein allmählicher Übergang sei angesichts der aktuellen Krisen hoffnungslos, nötig sei einer jener Sprünge, durch die sich Europa immer schon entscheidend weiterentwickelt habe. Im Vorwort zitiert das Autorenteam Winston Churchill, der bereits 1946 warnte: „Wenn Europa vor endlosem Elend und schließlich vor seinem Untergang bewahrt werden soll, dann muss es in der europäischen Völkerfamilie diesen Akt des Vertrauens und diesen Akt des Vergessens gegenüber den Verbrechen und Wahnsinnstaten der Vergangenheit geben. Wenn das Gefüge der Vereinigten Staaten von Europa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genauso viel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern.“
Zu dessen inneren Argumenten sind die äußeren von Europas Stellung heute hinzugekommen. Was sich nicht geändert hat: Für Churchill war klar, dass Großbritannien nicht zu dieser europäischen Republik gehören würde, sondern deren privilegierter Partner sei. Das sehen auch Simms und Zeeb so – auch wenn sie als europäische Regierungssprache das Englische vorschlagen. Der Brexit wäre jetzt katastrophal, weil er zu einem Zeitpunkt völliger Instabilität der Union käme und die Fliehkräfte noch verstärke – zu einem späteren, stabileren Zeitpunkt aber unvermeidlich und richtig. Es reiche ohnehin, wenn zunächst nur zwei oder drei starke Mitgliedsländer zur Vereinigung der Staaten bereit seien – und der Rest dann wählen müsste: draußen in der Kälte oder drinnen im Konflikt um den Konsens.
Man mag darin Ansätze eines „Kerneuropa“oder eines „Europa der zwei Geschwindigkeiten“entdecken. Für Europa als Union sehen diese Fachleute jedenfalls nur diese beiden Möglichkeiten: entweder möglichst bald ganz vereint oder sehr bald schon gar nicht mehr.
Für Winston Churchill gehörten die Briten nicht zur europäischen Republik
Brendan Simms, Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund. 12,95 Euro
Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! J.H.W. Dietz, 304 Seiten, 18 Euro