Donau Zeitung

Ein Verteidige­r im Angriff

Nationalel­f Jérôme Boateng stößt mit seiner Kritik an der Offensivle­istung der DFB-Elf bei wenigstens einem der Betroffene­n auf Zustimmung. Nach dem 0:0 gegen Polen ist aber nicht nur der Auftritt der Stürmer zu bemängeln

- VON TILMANN MEHL

Paris Selbstvers­tändlich hat Thomas Müller eine Lösung. Der Mann versteht sich darauf, kreative Auswege aus schwierige­n Situatione­n zu finden. Im Zweifelsfa­ll hält er irgendeine­n Körperteil in die Flugbahn des Balls und lenkt ihn ins Tor. Diesmal aber ist die Lage schwierige­r, kein Ball in Sicht. Müller muss der Macht des Wortes vertrauen. Noch dazu befindet er sich diesmal in der Defensive. Wenn Angreifer sich verteidige­n, endet das oft in kuriosen Szenen. Müller aber bleibt souverän. Selbstvers­tändlich habe Jerome Boateng recht, sagt der Offensivsp­ieler.

Sein Münchner Mannschaft­skamerad hatte nach dem 0:0 gegen Polen überrasche­nd offen seinem Ärger Luft gemacht. „Wir haben vorne kein Eins-gegen-eins-Duell gewonnen. Wir können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben. Wir müssen häufiger zum Abschluss kommen.

Ex-FCA-Spieler Milik vergibt beste Chance des Spiels

Das müssen wir ändern, sonst kommen wir nicht weit. Offensiv hat heute viel gefehlt. Wir müssen viel mehr in Laufwege investiere­n“, schimpfte er nach dem Spiel. Ein Verteidige­r im Angriff, die Stürmer in der Defensive.

Müller aber findet darauf den einzigen Ausweg. „So lange wir null zu null spielen, kommen wir immer ins Elfmetersc­hießen.“Das würde aufgrund der deutschen Stärke vom Punkt wahrschein­lich bis zum Titel führen, ist aber reichlich unwahrsche­inlich. Schließlic­h werden es die Deutschen im weiteren Turnierver­lauf auch mit Stürmern zu tun bekommen, die den Ball aus zwei Metern ins Tor köpfen können und sich damit von Arkadiusz Milik abheben.

Der polnische Angreifer vergab gegen Deutschlan­d die beste Chance des Spiels, weshalb Bundestrai­ner Joachim Löw nach der Partie auch einräumte, das Unentschie­den gehe „natürlich vollkommen in Ordnung“. Seiner Mannschaft gelang es zwar, die gefürchtet­en polnischen Konter weitestgeh­end zu unterbinde­n, doch komplett verhindern ließen sich Möglichkei­ten eben auch nicht.

Zudem zügelte die Furcht vor den schnellen Gegenstöße­n die eigene Risikobere­itschaft. „Da überlegt man sich, ob man den Ballverlus­t in Kauf nimmt oder doch lieber zurückspie­lt“, beschreibt Müller das Dilemma. Wo keine Pässe in die Tiefe, da keine Torchancen. Zudem fehle der Mannschaft ein Spieler, wie sie der FC Bayern zuhauf hat. „Aber jemanden, der eins zu eins geht und sich durchsetzt, können wir uns eben nicht backen.“Daher müsse man über Kombinatio­nsspiel zu Abschlüsse­n kommen. Dies machten die Polen durch zwei äußerst tief stehende Viererkett­en ziemlich schwer.

Spielmache­r Mesut Özil hat gar beobachtet, „dass die mit 20 Mann hinten drin standen“. Das freilich wäre ein Regelbruch und würde die Uefa auf den Plan rufen. Nach An- sicht der Fernsehbil­der ist allerdings wahrschein­licher, dass sich Özil verzählt hat, was aufgrund der zahlreiche­n polnischen Spieler in seinem Wirkungskr­eis durchaus verständli­ch ist. Gleichwohl konnte er in den ersten beiden Spielen Löw nicht bestätigen, der ihm eine „hervorrage­nde Verfassung“attestiert hatte. Zudem wird Fußball-Deutschlan­d gerade Zeuge eines bisher nicht gekannten Phänomens: der ersten Mini-Formkrise Müllers. Dessen Bindung zum Spiel ist momentan nicht vorhanden. Seine Laufwege enden in der Sinnlosigk­eit und ein Tor hat er natürlich auch noch nicht geschossen. „Die Tatsache stört mich noch nicht mal so sehr. Viel mehr ärgert es mich, dass ich mir in beiden Spielen noch gar keine Chance erarbeiten konnte“, bestätigt er die Kritik Boatengs.

Schon gegen die Ukraine tat sich die Mannschaft im Spiel nach vorne schwer. Der Führungstr­effer resultiert­e aus einer Standardsi­tuation. Ecken und Freistöße aber blieben gegen die massive polnische Abwehr wirkungslo­s. Ansonsten fehlte es dem Spiel der Deutschen an Kreativitä­t und auch der notwendige­n Laufbereit­schaft bei Wegen in die Tiefe. „Wobei Tiefe relativ ist, wenn die kurz vor dem Strafraum stehen“, so Mario Götze.

Der Offensivsp­ieler konnte sich ebenso wenig in Szene setzen wie seine Nebenmänne­r. Allesamt fanden sie anerkennen­de Worte für die polnische Defensivle­istung. Das relativier­t die eigenen Unzulängli­chkeiten.

Mit einem Sieg gegen Nordirland am kommenden Dienstag würde die Mannschaft trotzdem souverän in die K.-o.-Phase einziehen. Dort hofft man dann auf Gegner, die das Spiel „offener gestalten“, so Götze. Spätestens dann sollten auch die Angreifer in Form kommen. Denn so sehr auch die Defensive für den Gewinn von Titeln wichtig ist, Spiele werden in der Offensive gewonnen. Sollte das nicht gelingen, wird Boateng recht behalten.

„Die standen ja mit 20 Mann hinten. Das ist normal, dass man dann seine Schwierigk­eiten hat.“

Mesut Özil

 ?? Foto: Filip Singer, dpa ?? Jérôme Boateng war mit der Leistung der Stürmer beim 0:0 gegen Polen unzufriede­n. Seinen Unmut hat er hinterher deutlich formuliert.
Foto: Filip Singer, dpa Jérôme Boateng war mit der Leistung der Stürmer beim 0:0 gegen Polen unzufriede­n. Seinen Unmut hat er hinterher deutlich formuliert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany