Der Tag, an dem ich Leo Reichwein war
Zuschauer Unser Autor hat sich eine personalisierte Eintrittskarte auf dem Schwarzmarkt besorgt. Eigentlich hätte er es damit nicht ins Stadion schaffen dürfen. Eigentlich ...
Toulouse Wer in diesen Tagen nach Frankreich aufbricht, tut das mit einem mulmigen Gefühl. Man reist ja nicht mehr in ein Land, das wir wegen seines Käses, seines Weins und der Liebe rühmen, sondern in einen Hochsicherheitstrakt. Ich war dann auch mal da – im Bewusstsein, die allgemeine Sicherheit zu gefährden. Oder zumindest für Aufruhr zu sorgen. Ich war auf eine Nacht im Knast eingestellt.
Ich habe mich nicht an die Gebote der Uefa gehalten – und das in voller Absicht. Es wird nun Zeit für ein Geständnis, jetzt da ich schon wieder zurück bin und keiner es gemerkt hat: Ich reiste unter zwei Namen!
Am Flughafen von Toulouse war ich noch Udo Muras, sah meinem Passbild trotz unchristlicher Morgenstunde einigermaßen ähnlich und wurde freundlich ins Land gelassen. Doch nachmittags am Stadion Municipal war ich schon Leo. Leo Reichwein. So stand es auf meinem Ticket. Meine Freundin war übrigens auch Leo Reichwein, den Franzosen kann man auch weismachen.
Heutzutage sind EM-Karten ja personalisiert, dem Terror sei Dank. Exklusiv zu ordern bei der Uefa, um verdächtige Subjekte nicht reinzulassen. Aber das Böse findet immer einen Weg. Es gibt nämlich trotzdem Ticketbörsen, und es gibt Schwarzmärkte wie zu allen Zeiten. Und wer sich da eindeckt, der bekommt das Ticket eines anderen, der es vielleicht nie haben wollte und nur ein bisschen Urlaubsgeld brauchte.
So also zahlten wir je 200 Euro für das Spiel der Spanier gegen die Tschechen, für das uns die Uefa keine Karten mehr geben wollte. Nur komisch, dass neben mir noch zwei Plätze frei waren ...
Wochenlang plagte uns die Sorge, was wohl passiert am Einlass. In einer Zeitung stand, die Sicherheitsmaßnahmen seien so strikt, dass die Personalausweise kontrolliert werden würden. Und spätestens dann würden die Handschellen klicken.
Freunde von mir, die das gleiche Problem bei anderen Spielen hatten, gaben aber schon Entwarnung: Da alles passiert nix. Nicht in Lille, nicht in Marseille, nicht in Paris. Sie hatten ja so recht. Es passiert überhaupt nicht viel.
Das ist eine gute Nachricht für alle friedfertigen Fans, die zum ersten Mal in ihrem Leben aus purer Not ein bisschen geschummelt haben. Und auch wieder nicht. Denn die Gestalten, die wir nicht im Stadion sehen wollen, kommen auch rein. Jeder kommt rein – mit Ticket. Womit man sich die ganze Personalisierung schenken kann.
Und man kommt schnell rein. Einmal kurz abtasten, das war’s. Es ist ja auch kein Traumjob. In Toulouse machten ihn auffällig viele junge Menschen, die offenbar ihr Studium finanzieren wollten. Das Bürschchen, das mich untersucht und fahrlässigerweise durchgelassen hat, hätte ein russischer Hooligan zum Frühstück verspeist.
Und dann sitzt man da unter falschem Namen im fremden Block, was ich mit dem Tragen des deutschen Trikots übermütig demonstrierte. Allein unter Spaniern, dachten wir. Aber dann sahen wir einen Mann im Gladbach-Trikot, einen im Ballack-Trikot (rot/Nummer 13) und einen, der den Kicker las. Tschechen waren da, Schweden und Franzosen. Ob die auch alle Leo Reichwein waren? Was hätte bloß alles passieren können?
Nichts ist passiert. Ich sah Tschechen und Spanier vor dem Spiel zusammen feiern und hinterher auch, ich sah kein bisschen Gewalt und nicht mal Wut. Schon dafür haben sich die 400 Euro gelohnt. Ich flog beruhigt heim. Beruhigt in der Gewissheit, dass die meisten Menschen auf dieser Welt weiterhin in Frieden leben und in diesem Leben auch mal ein bisschen Freude haben wollen.
Ereignisse wie die EM sind einmal aus diesem Grund geschaffen worden. Später kam der Kommerz dazu, aber auch der tötete die Freude nicht. Terroristen und Hooligans haben es auch nicht geschafft. Jedenfalls nicht an diesem Tag in Toulouse, als ich Leo Reichwein war.
Udo Muras, 50, ist Fußball-Historiker mit einem Sinn für die Merkwürdigkeiten der Branche. Der Journalist und Buchautor lebt in Frankfurt.