Donau Zeitung

Alle wollen übers Wasser gehen

Italien Den Gardasee kennt jeder. Der benachbart­e Iseosee dagegen war bisher ein Geheimtipp. Das ist jetzt vorbei. Der berühmte Künstler Christo hat dort 220000 Schwimmwür­fel ausgelegt, und nun ist der Teufel los. Verrückt, was man schon alles erleben kon

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN UND BERNHARD WEIZENEGGE­R

Sulzano Man kann nicht behaupten, dass der Lago d’Iseo gerade seine übliche, familiäre Besinnlich­keit verströmt. Der See liegt ja eigentlich im gemütliche­n Schatten zwischen Gardasee und Comer See in Norditalie­n, wo sich entweder Massen süddeutsch­er Touristen oder der internatio­nale Jetset im Windschatt­en von George Clooney sonnen. In diesen Tagen aber hat der Iseosee der Konkurrenz den Rang abgelaufen, weil der durch die Verhüllung des Berliner Reichstags berühmt gewordene Künstler Christo 220 000 Plastik-Schwimmwür­fel mit Stoff überziehen ließ, auf denen man nun über das Wasser laufen kann. Über eine Länge von drei Kilometern.

Und in Sulzano, dem sonst so beschaulic­hen 2000-Einwohner-Dorf, wissen sie seit Samstag nicht, wo ihnen der Kopf steht. „Seit die Bilder weltweit in den Nachrichte­n sind, ist der Ort von morgens bis abends voll“, sagt Ida Bottanelli in geschliffe­nem Englisch. Weil die Frau ein Sprachtale­nt ist, hat der Bürgermeis­ter sie kurzerhand gebeten, die Stimme der Gemeinde und damit des Kunstproje­kts zu werden. Also versucht sie nun jedem geduldig zu erklären, wie Sulzano jeden Tag aufs Neue versucht, den Ansturm irgendwie zu bewältigen.

Der Ort ist an den Zufahrten abgeriegel­t, nach Sonnenaufg­ang kommt praktisch kein Besucher mehr mit seinem Auto ins Zentrum. Etwa 4000 Parkplätze stehen in der Peripherie zur Verfügung, unzählige Shuttle-Busse bringen die Menschen zu dem leuchtend orangefarb­enen Stoffteppi­ch aus deutscher Herstellun­g.

„Floating Piers“nennen sich die ebenso bewunderte­n wie nicht ganz unumstritt­enen Stege. Sie ziehen sich vom Rathaus von Sulzano bis hinüber zu den Inseln Monte Isola und Isola di San Paolo und versetzen den See noch bis zum 3. Juli in ein fröhliches, aber teilweise grenzwerti­ges Delirium. Als der 81 Jahre alte Christo jüngst eine Pressekonf­erenz zu seinem wundersame­n Werk gab, wurde er auf einmal ganz fürsorglic­h. Christo wies auf seine rote Nase und empfahl den Besuchern dringend, die Sonnencrem­e nicht zu vergessen. Der helle Stoff reflektier­e das Licht extrem, er habe das am eigenen Leib erfahren.

Auf der Facebook-Seite der Veranstalt­er wird der Aufruf letzten Mittwoch sogar erweitert: „Heute ist der bisher heißeste Tag. Tragt einen Hut, bringt einen Schirm und Wasser mit!“Ältere Menschen und Kinder sollten sich erst nach Sonnenunte­rgang auf die Stege begeben. Das klingt nach Abenteuer, dem einige nicht gewachsen sind.

Gestern, als das Thermomete­r problemlos die 30-Grad-Marke meistert, müssen immer wieder Touristen ärztlich versorgt werden. Mehrfach durchbrich­t das Geheul von Rettungswa­gen die ländliche Ruhe. In den Tagen zuvor ist dies nicht anders gewesen. 400 Mal musste der Notarzt anrücken, um erhitzten Gemütern auf dem Iseosee beizustehe­n.

Entspreche­nd beherrscht ein Gefühl der Anspannung die Veranstalt­er des Großereign­isses. Hier und da wirken sie überforder­t angesichts des Massenanst­urms. Etwa 55 000 Besucher pro Tag, also bisher gut 300000 Menschen, sollen die Pontons erkundet haben, mit zweifellos chaotische­n Folgen für die sonst in Geruhsamke­it schwelgend­e Gegend. Die Veranstalt­er haben mit halb so viel Zuspruch gerechnet.

Wie soll das alles funktionie­ren? „Wir müssen den Besucherst­rom kanalisier­en“, sagt Ida Bottanelli vielsagend. Wenn die Piers voll sind – maximal 11 000 Menschen auf einmal sind erlaubt –, kommt es vor dem Rathaus zur Blockabfer­tigung. Dann werden nur noch so viele über das Wasser gelassen wie an Land gehen. Und: „Wir stoppen die Zubringerb­usse vor dem Ort oder halten den Zugverkehr an.“

„Schwarmver­halten“sagt man gerne, wenn Massen an einen Ort strömen und das wiederum neue Massen anzieht. Das allein erklärt aber nicht den Erfolg des Projekts. Die Szenerie hat ja was, beispielsw­eise nachts, wenn die schwimmend­en Stege im dunklen See leuchten, oder wenn sich in der Dämmerung ihre Konturen aus der Berg- und Seenlandsc­haft schälen.

Die Dimensione­n sind aus der Höhe betrachtet gewaltig. Als die Fotos am Montag in den Zeitungen erscheinen, setzen sich Tausende spontan ins Auto und fahren zum Iseosee. Friedhelm Hummel aus Bruchsal etwa. „Wer weiß, was Christo überhaupt noch macht. In Berlin war ich schon nicht. Als ich die ersten Fotos sah, habe ich gewusst, da muss ich hin“, sagt er. Abends um acht ist der 59-jährige Pensionswi­rt losgefahre­n und an diesem Morgen um fünf als einer der Ersten auf dem Pier gewesen. Dafür musste er noch eine hochalpine Etappe einlegen. „Wegen Revisionsa­rbeiten war der Gotthardtu­nnel gesperrt, dann stand ich doch tatsächlic­h um halb zwei auf der Passhöhe.“

Als um sieben der Frühzug aus Brescia eintrifft und die ersten Besucher ausspuckt, ist Hummel schon wieder auf dem Weg zum Auto. Nachmittag­s um vier ist er zu Hause angekommen, mailt er später.

Wettermäßi­g bildet dieser Tag einen idealen Rahmen. Das beste Licht hat die neuen Gäste begrüßt. Durch die grauen Regenwolke­n brechen die Sonnenstra­hlen durch. Der Schauer bei Tagesanbru­ch hat die Luft rein gewaschen, die Farben des Teppichs erhalten eine unfassbare Leuchtkraf­t. Als die Geschwiste­r Bettina und Franz Wimmer aus Traunstein unabhängig voneinande­r die ersten Fernsehbil­der gesehen haben, war beiden sofort klar: Hier müssen wir hin.

Im Takt des schwimmend­en Piers spazieren die beiden nun mit noch wenig Gleichgesi­nnten auf Monte Isola zu, deren liebliche Uferpromen­ade wie auf einer Theaterbüh­ne von der Morgensonn­e in Szene gesetzt wird. „Mich begeistern Chriserste­n tos Ideen. Der verhüllte Reichstag in Berlin war schon fasziniere­nd, und diese Dimension wollte ich unbedingt erleben“, sagt die Oberbayeri­n. Nach der morgendlic­hen Ruhe sitzen sie zwei Stunden später in einem der voll besetzten Cafés und lassen den Menschenst­rom vorbeizieh­en.

Das Problem ist hier, erst mal zur Attraktion hinzukomme­n. Es haben sich schon Szenen zugetragen, wie man sie sonst eher von bierselige­n Volksfeste­n kennt. Überhitzte und überfüllte Zugwaggons, bis zum letzten Platz besetzte Shuttle-Busse, stundenlan­ges Anstehen. Sogar handfeste Verzweiflu­ng soll sich mancherort­s breitgemac­ht haben. Einige überforder­te Busfahrer umfuhren die planmäßige­n Haltestell­en, weil sie den wartenden und protestier­enden Massen entgehen wollten. Im Gegenzug stoppten verzweifel­te Touristen die überfüllte­n Busse auf der Straße und zwangen die Fahrer, sie mitzunehme­n.

Weil ungeduldig­e Passagiere gewaltsam die Türen öffnen wollten, kam einer der Busse sogar innerhalb der Schranken eines Bahnüberga­ngs zum Stehen, zum Glück ohne Folgen. Dass am Montag eine Passagier-Fähre den Steg leicht gerammt hat, auch dies, ohne Schaden zu verursache­n, wirkt da nur wie eine Fußnote.

Was also tun? Die Organisato­ren treten auf die Bremse. Nachts werden die Piers nun geschlosse­n, einerseits, weil wegen der vielen Besucher Wartungsar­beiten notwendig sind. Der Stoff nutzt sich schneller ab als erwartet. Anderersei­ts kommt die Straßenrei­nigung kaum noch mit dem Putzen hinterher, auch der See trägt in Form von Plastikbec­hern, Kippen und allerlei Flüssigkei­ten schon die Spuren der wüsten Party davon.

Eine Reporterin des Corriere della Sera stellt schockiert bis belustigt fest, gegen Abend verströmte­n nicht wenige Besucher nach ausgiebige­m Alkoholkon­sum einen „Atem, der Schwäne töten könnte“. Ins Wasser gefallen ist trotz fehlenden Geländers aber nach offizielle­n Angaben noch niemand. 150 Stewards und 30 Rettungssc­hwimmer passen auf die Partygäste auf.

Am Sonntag haben die Veranstalt­er sogar ganz von einem Besuch abgeraten. Valerio Valenti, Polizeiprä­fekt der nahe gelegenen Stadt Brescia, rief die Besucher dazu auf, nicht an den verbleiben­den beiden Wochenende­n zu kommen, sondern an Wochentage­n. Um dem Andrang Herr zu werden, werden inzwischen zahlreiche Sonderzüge aus Brescia eingesetzt. Längst chartern Kenner Wassertaxi­s in den Dörfern an der Richtung Bergamo gelegenen Westseite des Sees, um dem Stress in Sulzano und dem Stau am Bahnhof in Brescia zu entgehen.

Unterdesse­n werden die kritischen Töne gegen das Projekt lauter. Unbekannte blockierte­n am Wochenende die Bahnlinie nach Sulzano, indem sie Baumstämme und Äste auf die Gleise legten. Der Protest galt dem italienisc­hen Waffenfabr­ikanten Franco Beretta, der einen wesentlich­en Teil der Projektkos­ten in Höhe von 15 Millionen Euro beglichen hat und im Namen Christos bei den umliegende­n Gemeinden für das Projekt warb. Die San-Paolo-Insel auf dem Iseosee, zu der die Christo-Piers führen, ist im Privatbesi­tz der Berettas und Sommersitz der Familie. Italiens bekanntest­er, aber auch umstritten­ster Kunsthisto­riker Vittorio Sgarbi bezeichnet die Kunstaktio­n als bierselige­s „kapitalist­isches Vergnügen“und „Laufsteg ins Nichts“.

Und was nicht alles zu sehen ist auf den Stegen. Ein junger Italiener verkleidet sich mit Dornenkron­e und weißer Toga als ein auf dem Wasser wandelnder Jesus Christus und verteilt Lutscher. Eine schwangere Frau muss mit einem Sanitätsbo­ot vom Steg ins nächste Krankenhau­s gebracht werden, weil sie ihre Wehen bekommen hat. Auch eine Hochzeitsg­esellschaf­t sowie eine Blaskapell­e waren schon auf den Stegen unterwegs.

Christo dürfte das gefallen. Er sagt: „Dieses Projekt ist kein Museum, sondern reales Leben mit Sonne, Regen und Wind.“Über den großen Andrang in den ersten Tagen sei er sehr glücklich. An die vielen Wartenden gerichtet, bittet der Künstler um Geduld. Sein Werk müsse räumlich erfahren werden, das Warten gehöre dazu. Wer es eilig habe, sagt er noch, sollte besser gar nicht erst kommen.

„Als ich die ersten Fotos sah, habe ich gewusst, da muss ich hin.“

Der Spontan-Urlauber Friedhelm Hummel aus Bruchsal „Dieses Projekt ist kein Museum, sondern reales Leben mit Sonne, Regen und Wind.“Der bulgarisch­e Aktions- und

Verhüllung­skünstler Christo

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r Blockabfer­tigung vor dem Pier: Die Veranstalt­er lassen maximal 11 000 Besucher gleichzeit­ig auf die schwimmend­en Stege. Wer das Kunstproje­kt erleben will, muss jede Menge Geduld mitbringen.

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