Warum dürfen die Deutschen nicht abstimmen?
Interview Ein Verfassungsrechtler erklärt die Vor- und Nachteile der direkten Demokratie
Warum dürfen die Briten über den EU-Austritt entscheiden, die Deutschen aber nicht? Kyrill-Alexander Schwarz: Die deutsche Verfassung kennt keine entsprechenden Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes. Mitentscheiden können Deutschlands Bürger nur im Fall einer Neugliederung des Bundesgebietes und im Fall einer ganz neuen Verfassung, die sich Deutschland bei einer Ablösung des Grundgesetzes geben könnte. Weitere direkte Mitwirkung der Bürger ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Die Väter des Grundgesetzes haben sich ganz bewusst für eine repräsentative Demokratie entschieden.
Hielten Sie das Volk für verführbar? Schwarz: Die Verfassungsgeber lebten ja mit der Erfahrung, dass Volksabstimmungen von Demagogen in hohem Maße missbraucht werden können. Und es waren die Volksabstimmungen in der Weimarer Reichsverfassung, die zur Skepsis gegenüber Volksabstimmungen geführt haben. Damals mobilisierten rechte Parteien mit einem „Volksbegehren gegen die Versklavung des Deutschen Volkes“die Masse gegen Reparationszahlungen. Obwohl das geforderte Gesetz letztlich nicht durchkam, entstand doch durchs Volksbegehren eine extrem aufgeheizte Stimmung.
Die Bürger können über die von ihnen gewählten Abgeordneten mitbestimmen. Was ist der Nachteil der parlamentarischen Demokratie im Vergleich zur direkten Demokratie? Schwarz: Ich sehe in der parlamentarischen Demokratie überhaupt keinen Nachteil. Ich bezweifle vielmehr, ob ein Volksbegehren, bei dem nur mit „Ja“oder „Nein“geantwortet werden kann, ein geeignetes Instrument der Mitbestimmung ist. Gäbe es das Instrument, müssten bei einer Volksabstimmung hochkomplexe, hochpolitische Themen auf simple Ja-Nein-Fragen reduziert werden. „Griechenlandhilfe: Ja oder Nein?“, „Aufnahme der Türkei in die Europäische Union: Ja oder Nein?“, „Beendigung der Flüchtlingswelle durch Schließung der Grenzen: Ja oder Nein?“. Ich wäre kein Freund einer solchen Reduzierung.
Die Befürworter von Volksentscheiden auf Bundesebene argumentieren, direkte Mitbestimmung helfe gegen Politikverdrossenheit. Schwarz: Man kann an dem System viel kritisieren. Und es ist vielleicht auch ein Versagen politischer Eliten, wenn wir eine so stark zurückgehende Wahlbeteiligung haben. Ich glaube aber, dass Wahlen ein ganz bestimmter Mechanismus zu eigen ist, den man bei Volksabstimmungen nie haben kann. Die Bürger können bei Wahlen periodisch ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Arbeit der Politiker ausdrücken. Damit ziehen sie die Politiker zur Verantwortung. Eine solche Verantwortungszurechnung gäbe es aber bei Volksabstimmungen nicht.
Sie befürchten, dass durch mehr Mitbestimmung des Volkes die Politiker aus der Verantwortung entlassen würden. Schwarz: Die jetzige Bundesregierung kann ich als Bürger 2017 abwählen, wenn ich unzufrieden bin. Damit mache ich die Regierung und ihre Parlamentarier verantwortlich für all das, was aus meiner Sicht in den letzten vier Jahren schiefgelaufen ist. Haben wir aber einen Volksentscheid, der verbindlich sein soll – wen mache ich denn dann dafür nachher verantwortlich? Auf Bundesebene sollten also weiter allein Parlamentarier entscheiden? Schwarz: Auf jeden Fall. Zumal wir aus anderen Ländern wie etwa den Niederlanden wissen, dass das Recht auf eine Mitbestimmung des Volkes keineswegs zu höherer Wahlbeteiligung führt. Das sieht man auch an Bayern: ein sehr plebiszitfreundliches Bundesland. Trotzdem abnehmende Wahlbeteiligung.
Führt mehr Mitbestimmung zu weniger Politikverdrossenheit? Schwarz: Das ist nicht anzunehmen. Man möge sich vorstellen, dass man im monatlichen Rhythmus all die schwierigen Fragen, die angesprochen wurden, dem Volk zur Abstimmung vorlegt. Dass dann das Volk bei jeder Abstimmung wieder Lust hätte, ein Kreuz zu machen, schließe ich nicht aus. Aber ich sehe die Gefahr, dass Volksabstimmungen aus unserer parlamentarischen Demokratie eine Stimmungsdemokratie machen. Dass keine inhaltlichen Argumente ausgetauscht würden, sondern Emotionen entscheiden. Sie trauen dem Volk nicht zu, komplexe Fragen zur Gänze zu erfassen? Schwarz: Nein! Ich bin nicht so arrogant, dass ich der Bevölkerung nicht zutraue, komplexe Themen zu erfassen. Ich glaube nur, dass man solche Themen nicht in Fragen pressen kann, die mit Ja oder Nein zu beanworten sind.
Interview: Gisela Rauch
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Kyrill-Alexander Schwarz ist seit 2010 Inhaber einer Lehrprofessur für Öffentliches Recht an der Uni Würzburg.