Politiker im Sitzstreik
USA Der Kampf um ein schärferes Waffenrecht nimmt groteske Formen an. Abgeordnete starten beispiellose Protestaktion
Washington „Nur eine Mutter kann diesen Urschrei ausstoßen“, ruft der demokratische Abgeordnete Bobby Rush. „Ich werde den Urschrei der Mutter meines Sohnes nie vergessen!“Der 69-Jährige steht in praller Sonne vor dem Kongress. Er spricht über den Tod von Huey Rush, der 1999 in Chicago erschossen wurde. „Es ist Zeit, die Folge von Urschreien in unserem Land zu beenden, und zwar jetzt!“
Eineinhalb Wochen sind seit dem Amoklauf von Orlando vergangen, dem schlimmsten in der Geschichte der USA. Neben Rush steht die demokratische Minderheitenführerin aus dem Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi. Auch sie will ein Ende jener Routine, mit der die politische Elite nach Massenschießereien und Gedenkminuten zur Tageordnung übergeht. Pelosis Demokraten haben das Repräsentantenhaus gekapert – per Sitzstreik auf dem Boden, ein beispielloser Vorgang in den auf würdige Etikette bedachten Hallen.
„Gebt ihnen eine Stimme!“, rufen Abgeordnete im Saal und schwenken Plakate mit Fotos und Namen von Schusswaffenopfern. Und, als der konservative Repräsentantenhaussprecher Paul Ryan erscheint: „Schande, Schande, Schande!“
Die Demokraten haben ihre Aktion am Mittwoch begonnen. Sie blockierten das Rednerpult mit Dauerreden. Sie verlangten, zwei Entwürfe für Waffenrechtsverschärfungen zur Abstimmung zu stellen: Einer würde den Erwerb durch Menschen verbieten, die auf Terrorverdachtslisten stehen. Der andere soll Hintergrundüberprüfungen ausweiten.
Vier ähnliche Vorschläge sind vergangene Woche schon im Senat gescheitert. Die Republikaner, die in beiden Kammern die Mehrheit halten, haben nicht nur inhaltliche Vorbehalte. Repräsentantenhaussprecher Ryan wollte dem Streik auch deshalb nicht nachgeben, weil das einen Präzedenzfall geschaffen hätte – den Parlamentsregeln zufolge hat die Mehrheitspartei das Recht zu entscheiden, welche Gesetzesentwürfe zur Abstimmung kommen.
Der spektakuläre Sitzstreik sollte weitgehend erfolglos bleiben. Nach mehr als 24 Stunden beendete der Anführer des Sitzstreiks, der legendäre Bürgerrechtler John Lewis, am Donnerstagmittag (Ortszeit) die erste Aktion dieser Art in der jüngeren Geschichte des US-Kongresses.
Der 76-jährige afroamerikanische Abgeordnete, der einst an der Seite von Martin Luther King für die Gleichstellung der Schwarzen marschiert war, zeigte sich jedoch weiterhin kämpferisch. An seine Fraktionskollegen appellierte er, nach der zweiwöchigen Parlamentspause über den Unabhängigkeitstag am 4. Juli hinweg, „entschlossener denn je“zurückzukehren. „Die Zeit für Schweigen und Geduld ist lange vorbei“, begründete Lewis den Sitzstreik. Dem Sender CNN sagte er, manchmal müsse eine Regel gebrochen werden, um „ein übergeordnetes Gesetz, ein moralisches Gesetz aufrechtzuerhalten“.
Für die Aktion bekam er Rückhalt von Präsident Barack Obama, der in den vergangenen Jahren mit mehreren Anläufen zur Einschränkung des Waffenrechts am Widerstand der Republikaner gescheitert war. Die Republikaner zeigten sich unnachgiebig. Paul Ryan, bezeichnete die Aktion als „PublicityTrick“. (mit afp)
Rückhalt kommt von US-Präsident Obama