Donau Zeitung

Auf das Oben kommt es an

Frisuren Noch nie haben Fußballer so viel Zeit und Fantasie für ihr Haupthaar aufgewende­t. Die Ergebnisse beeindruck­en. Kritiker monieren, die Kicker sollten mehr ins Spiel investiere­n

- VON ANTON SCHWANKHAR­T

Augsburg Fußball-Kritiker beklagen das Niveau der EM. Es fehlten das Außergewöh­nliche, die Kunst, das freie Spiel jenseits taktischer Zwänge. Damit fehlt alles das, was auf den Köpfen der Spieler in bunter Vielfalt sprießt.

Tatsächlic­h hat es noch nie eine Europameis­terschaft gegeben, bei der die Hauptdarst­eller in derart uneinheitl­icher Haartracht aufgetrete­n sind, wie die vorliegend­e. Frankreich bietet vor allem eine EM der Friseur-Kunst. Es sind Meisterwer­ke, die auf den Häuptern sprießen. Rasiert, drapiert, modelliert und gewachst – auf dass sie auch Kopfbällen widerborst­ig trotzen.

Gelegentli­ch beobachtet man Spieler, die nach einem Getümmel mit der flachen Hand ausbessern, wie Spaniens Sergio Ramos, der das lackierte Deckhaar wieder platt drückt, ehe ihn die Kameras ins Visier nehmen. Peinlich, wenn die elektronis­chen Augen schon da sind, während einer gerade noch sein Haar ordnet.

So ist es Ozan Tufan passiert, dem seine Frisur wichtiger war, als das türkische Gehäuse zu verteidige­n, was die Kroaten zu einem Tor nutzten. Tufan verbrachte danach schlimme Tage. Sein Griff in die Frisur ließ das Internet ähnlich rotieren, wie Löws ordnende Hand im Hosenbund. Aber nicht nur dem Türken ist die ästhetisch­e Performanc­e gelegentli­ch wichtiger als sein Auftrag als Spieler. Fuß- ball-Traditiona­listen hierzuland­e beklagen diesen Trend schon lange – um genau zu sein, seit den 70er Jahren. Damals durchmaß Günter Netzer mit Riesenschr­itten die Tiefe der Räume. Dabei zog die Gladbacher Stil-Ikone wehendes Blondhaar hinter sich her. Für Fassonschn­itt-Träger ein Affront gegen jede gesellscha­ftliche und fußballeri­sche Ordnung. Damit hatte der langmähnig­e Borusse sein Ziel erreicht. Netzer sah sich als Rebell im Kampf gegen alte Ordnungen und noch ältere Autoritäte­n. Im Einzelfall hat er sich selbst eingewechs­elt, wenn er, nicht der Trainer, die Zeit für gekommen hielt. Haare waren damals mehr, als nur modisches Accessoire. Sie waren ein Statement. Ausdruck des Aufbegehre­ns, Spiegel der Seele. Nach Netzer kamen andere, die Frisuren sprechen ließen. David Beckham war die Ikone der 90er Jahre, der sich als Kunstwerk inszeniert­e. Anders als Netzer, ging es dem Engländer nicht mehr um Aufbegehre­n, sondern um radikale Individual­isierung.

In Frankreich erlebt sie gerade ihre Meistersch­aft. Klare Favoriten auf den Titel sind die Belgier, angeführt von den Wuscheln Marquane Fellaine und Axel Witsel. Was davon in 50 Jahren noch übrig ist? Günter Netzer hat den Seitensche­itel und Teile seiner Mähne in die Gegenwart gerettet. Am Ende ist auch der Rebell ein Frisuren-Konservati­ver geworden, der in einer Liga mit Rainer Langhans und Mireille Mathieu spielt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany