Auf das Oben kommt es an
Frisuren Noch nie haben Fußballer so viel Zeit und Fantasie für ihr Haupthaar aufgewendet. Die Ergebnisse beeindrucken. Kritiker monieren, die Kicker sollten mehr ins Spiel investieren
Augsburg Fußball-Kritiker beklagen das Niveau der EM. Es fehlten das Außergewöhnliche, die Kunst, das freie Spiel jenseits taktischer Zwänge. Damit fehlt alles das, was auf den Köpfen der Spieler in bunter Vielfalt sprießt.
Tatsächlich hat es noch nie eine Europameisterschaft gegeben, bei der die Hauptdarsteller in derart uneinheitlicher Haartracht aufgetreten sind, wie die vorliegende. Frankreich bietet vor allem eine EM der Friseur-Kunst. Es sind Meisterwerke, die auf den Häuptern sprießen. Rasiert, drapiert, modelliert und gewachst – auf dass sie auch Kopfbällen widerborstig trotzen.
Gelegentlich beobachtet man Spieler, die nach einem Getümmel mit der flachen Hand ausbessern, wie Spaniens Sergio Ramos, der das lackierte Deckhaar wieder platt drückt, ehe ihn die Kameras ins Visier nehmen. Peinlich, wenn die elektronischen Augen schon da sind, während einer gerade noch sein Haar ordnet.
So ist es Ozan Tufan passiert, dem seine Frisur wichtiger war, als das türkische Gehäuse zu verteidigen, was die Kroaten zu einem Tor nutzten. Tufan verbrachte danach schlimme Tage. Sein Griff in die Frisur ließ das Internet ähnlich rotieren, wie Löws ordnende Hand im Hosenbund. Aber nicht nur dem Türken ist die ästhetische Performance gelegentlich wichtiger als sein Auftrag als Spieler. Fuß- ball-Traditionalisten hierzulande beklagen diesen Trend schon lange – um genau zu sein, seit den 70er Jahren. Damals durchmaß Günter Netzer mit Riesenschritten die Tiefe der Räume. Dabei zog die Gladbacher Stil-Ikone wehendes Blondhaar hinter sich her. Für Fassonschnitt-Träger ein Affront gegen jede gesellschaftliche und fußballerische Ordnung. Damit hatte der langmähnige Borusse sein Ziel erreicht. Netzer sah sich als Rebell im Kampf gegen alte Ordnungen und noch ältere Autoritäten. Im Einzelfall hat er sich selbst eingewechselt, wenn er, nicht der Trainer, die Zeit für gekommen hielt. Haare waren damals mehr, als nur modisches Accessoire. Sie waren ein Statement. Ausdruck des Aufbegehrens, Spiegel der Seele. Nach Netzer kamen andere, die Frisuren sprechen ließen. David Beckham war die Ikone der 90er Jahre, der sich als Kunstwerk inszenierte. Anders als Netzer, ging es dem Engländer nicht mehr um Aufbegehren, sondern um radikale Individualisierung.
In Frankreich erlebt sie gerade ihre Meisterschaft. Klare Favoriten auf den Titel sind die Belgier, angeführt von den Wuscheln Marquane Fellaine und Axel Witsel. Was davon in 50 Jahren noch übrig ist? Günter Netzer hat den Seitenscheitel und Teile seiner Mähne in die Gegenwart gerettet. Am Ende ist auch der Rebell ein Frisuren-Konservativer geworden, der in einer Liga mit Rainer Langhans und Mireille Mathieu spielt.