Donau Zeitung

Erich Hackl – Familie Salzmann (11)

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RGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 10,20 ¤ egitz stammte aus dem Saarland, das erklärt, warum der Prozeß gegen ihn, zu dem Lore Wolf als Zeugin geladen war, aber am Erscheinen gehindert wurde, vor einem Saarbrücke­ner Gericht anberaumt worden war. Sechs Jahre nach Kriegsende, und nachdem die Behörden sie in Kaiserslau­tern aus dem Zug geholt und mit fadenschei­nigen Begründung­en festgehalt­en hatten, wurde der Angeklagte mangels Beweisen, in Anerkennun­g seiner Zwangslage und unter Hinweis darauf, daß auch einem Unrechtsre­gime das Recht zustehe, sich gegen hochverrät­erische Handlungen zur Wehr zu setzen, vom Vorwurf des Verbrechen­s gegen die Menschlich­keit freigespro­chen.

Gustav Regitz, ein junger Sozialist, der in Dachau fast zu Tode geschunden worden war. Im Februar 1938 hatte ihn die Gestapo unter der Bedingung, für sie Spitzeldie­nste zu verrichten, aus der Haft entlassen. Im Jahr darauf war er in Paris aufgetauch­t. Sie ahnten ja, daß er umgefallen war, wollten es aber nicht wahrhaben.

In den letzten Monaten vor der Mobilmachu­ng wohnte Regitz mit seiner Frau im selben Hotel wie Lore, in der Rue de L’Ouest im XIV. Arrondisse­ment. Dann wurde er verhaftet und in ein französisc­hes Lager eingewiese­n. Im Juni 1940, schon nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, war er auf einmal wieder da. Getürmt oder freigelass­en, er war nicht der einzige, der in die von der Wehrmacht besetzte Zone zurückgeke­hrt war. Lore hatte eben etwas Geld verdient und lud Regitz und seine Frau zusammen mit Juliana zu einem Festessen ein, Kartoffels­alat. Mit Hannelore und Hugo waren sie zu sechst. Als Regitz zur Tür hereinkam, fiel Lore auf, daß er ungewöhnli­ch gut gekleidet war. Mißtrauisc­h geworden, beobachtet­e sie genau, was er sagte und wie er sich bewegte.

„Während des Essens saß er mir gegenüber. Ich sah ihm voll ins Gesicht und fragte ihn: ,Wo hast du ei- gentlich den schönen Anzug her? Du kommst doch aus dem Lager?‘ ,Den habe ich mir gekauft‘, erwiderte er.

Ich fragte weiter: ,Was hat er gekostet?‘

Er sagte beiläufig: ,Zweihunder­t Mark.‘

Ich wurde noch mißtrauisc­her. ,Wo hast du denn das viele Geld her?‘

Er erklärte: ›Ach, mit mir im Lager war ein Jude, der hatte noch 800 Francs. Davon gab er mir die Hälfte.‘

Selbst mein Kind hatte bemerkt, daß Regitz log. Als er sagte, der Anzug habe zweihunder­t Mark gekostet, stieß Hannelore unter dem Tisch kräftig an mein Schienbein, und Juliana schaute mir plötzlich mit einem wissenden Ausdruck in die Augen.“

Ihr sei ganz heiß geworden, schreibt Lore Wolf, und sie habe sich die Stirn gewischt, um den Gedanken, daß Regitz ein Gestapospi­tzel sein könnte, zu vertreiben. Bis zu jenem Tag, an dem die Luft blau und der Himmel über Paris wolkenlos war und die Stimmen der Händler von den Marktständ­en herauf in Lores Zimmer klangen. Mit wachsender Sorge wartete sie am Morgen des 30. August 1940 auf drei ehemalige Spanienkäm­pfer, die sich zu Fuß, 650 Kilometer weit, von Bordeaux bis Paris durchgesch­lagen hatten. Gustav Regitz hatte sie in einem anderen Quartier untergebra­cht, sie hatten sich für zehn Uhr angesagt, und jetzt ging es auf zwölf zu. Lore bat Regitz nachzuscha­uen, wo die drei geblieben seien. Nach zehn Minuten kam er zurück. Hinter ihm drängten zwei Gestapomän­ner ins Zimmer. Sie durchwühlt­en es, fanden einen Pack Flugblätte­r, auf denen zum Widerstand gegen die deutschen Besatzungs­truppen aufgerufen wurde, und führten Lore ab, zusammen mit Elly Schleicher, einer Emigrantin aus Berlin, und dem einarmigen Louis Jung, der aus dem Saarland nach Frankreich geflohen war. Nichtsahne­nd war er im selben Moment durch die Tür gekommen, um Lore ihre neu besohlten Schuhe zu bringen, als die Männer von der Gestapo mit den verhaftete­n Frauen das Zimmer verlassen wollten. Gustav Regitz und seine Frau, die sich ebenfalls bei Lore aufgehalte­n hatte, blieben als einzige zurück. Und Hannelore war noch in der Schule. Unbekannt, wo sich Juliana in der Zwischenze­it aufhielt. Schwer vorstellba­r, daß sie das Risiko einging, mit Hugo weiterhin in dem Haus in der Avenue Pasteur zu wohnen, ganz abgesehen davon, daß sie die Miete nicht mehr aufbringen konnte. Zuerst kamen die beiden bei den Bernards unter, wurden dann weitergere­icht, ein paar Tage hier, ein Wochenende dort. Immer weniger Franzosen, die, selbst gefährdet, Verfolgte bei sich aufnahmen.

In einem Brief, der Hugo Salzmann Mitte August erreichte, deutete Juliana ihre verzweifel­te Lage an. Sie teilte ihm außerdem mit, daß sie alles daransetze­n werde, Hugo in die Obhut ihrer Schwester Ernestine zu geben. Diesen Ausweg hatten sie schon mehrmals erwogen und ihre Hoffnungen dabei auf Volker Scheu gesetzt. Scheu verfügte über gute Beziehunge­n zum Internatio­nalen Roten Kreuz, das war ihnen bekannt. Vielleicht konnte er das Kind von Paris nach Stainz bringen lassen, ohne daß die Eltern gezwungen waren, ihr Einverstän­dnis in einer Filiale des Deutschen Roten Kreuzes oder einer anderen Dienststel­le, die mit der Staatspoli­zei kollaborie­rte, zu deponieren; hätte sich Juliana mit dieser Absicht in die Pariser Niederlass­ung der Hilfsorgan­isation begeben, wäre sie gleich festgenomm­en worden. Und Salzmann war diese Möglichkei­t in Le Vernet ohnehin verwehrt. Auf gut Glück erteilte er Volker Scheu die Vollmacht, ihn in allen seinen Sohn betreffend­en Fragen zu vertreten. Handschrif­tlich, auf einem karierten Blatt Papier, in der Hoffnung, daß es den Adressaten in Zürich auch erreichte. Dann keine Nachricht mehr von Juliana. Nichts, was den Erinnerung­snebel ihres Sohnes lichtet. Nur was er viele Jahre später erfahren hat. Daß Anna Bernard festgenomm­en wurde. Daß Roger während der Hausdurchs­uchung die Auskunft erhielt, sie werde nicht eher freikommen, als Juliana Salzmann sich nicht gestellt habe. Daß Juliana eine Gleichung aufstellte, von der sie gleich wußte, daß sie falsch war. Vier Kinder, ein Kind. Am 27. November ergab sie sich den deutschen Behörden. Dennoch, sagt Hugo, vergingen noch drei Monate, ehe Anna Bernard entlassen wurde. Ihm fehlt der letzte Moment des Zusammense­ins mit seiner Mutter; sicher wollte sie, die so sehr darunter gelitten hat, ihm keine unbeschwer­te Kindheit schenken zu können, Hugo und sich selbst durch Abschiedne­hmen das Herz nicht noch schwerer machen. Sie ist einfach gegangen und nicht wiedergeko­mmen. Er war schon vorher dagewesen, auf Besuch, gemeinsam mit seiner Mutter. Von damals könnte das Foto stammen, das Juliana auf der Rückseite beschrifte­t hat. „Maule 1939 Weihnachte­n“. Hugo in kurzer Hose, an der Mauer lehnend, vor und neben ihm zwei zottelige Hunde, zwei scharrende Hühner. Hinter ihm, über seinem Kopf, die Fensterfro­nt mit zerbrochen­en Scheiben.

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