Donau Zeitung

Der ganz normale Paket Wahnsinn

Logistik Die Deutschen klicken und kaufen, erst recht jetzt vor Weihnachte­n. Für die Boten heißt das: schleppen, abgeben, schnell weiter. Eine Geschichte über Zusteller, die nicht klingeln, schimpfend­e Kunden und Postautos, die nicht mehr fahren

- VON SEBASTIAN RAVIOL

München Patrick Mahler fährt mit seinem DHL-Transporte­r auf dem Gehweg einer Kleinstadt in Oberbayern. Entgegen der Fahrtricht­ung. Die dunkelblon­den Haare liegen ihm im Gesicht – dort bleiben sie den Tag über auch. Er schaut nach links, zählt langsam die Hausnummer­n mit. 20, 22, 24. „Der Gehweg, dein Freund und Helfer“, sagt er und stellt seinen Wagen nach 30 Metern ab. „In manchen Bezirken fahre ich mehr auf dem Bordstein als auf der Straße.“Alltag. „Wir haben gar nicht die Zeit, wie in der Fahrschule zu fahren.“Auch nicht die Zeit, an allen roten Ampeln zu halten. „Selbst schuld, wer da stehen bleibt“, sagt Mahler.

Patrick Mahler, der in Wirklichke­it anders heißt, ist Paketzuste­ller. Er trägt Nike-Sportschuh­e, Pullover und eine silberne Halskette unter der Weste. Mit seinen leicht angegraute­n Haaren sieht er älter aus als 27. Mahler hat schon alles gemacht. Einparker, Stuckateur, Staplerfah­rer – insgesamt für elf Zeitarbeit­sfirmen. Dann wurde er Paketzuste­ller bei der DHL. Es ist der stressigst­e seiner bisherigen Berufe. Mahler sieht, was in der Branche schiefläuf­t, die derzeit mehr denn je in der Kritik steht.

Er wuchtet das erste Paket aus dem Laderaum auf die Sackkarre und sagt: „Die Gerüchte stimmen.“Zusteller, die gar nicht erst beim Kunden klingeln, sondern nur eine Abholkarte in den Briefkaste­n werfen. Schlechte Bezahlung, miese Stimmung, Dauerstres­s. „Manchmal wird es mir zu viel“, sagt er. „Ich habe dann schon mal gegen ein Paket getreten.“Mahler will erklären, warum er und viele seiner Kollegen an ihre Grenzen stoßen.

Als er am Vormittag aufbricht, liegen 150 Pakete im Laderaum seines Transporte­rs. „Das ist wenig, heute ist es ruhig.“Manche Pakete wiegen 300 Gramm, andere 30 Kilo. Mahler geht von Haus zu Haus, 15 Kilometer am Tag, hat er mal überschlag­en. Er sprintet nicht, wie manche seiner Kollegen, die um ihren Job fürchten, wenn sie am Abend mit nicht ausgeliefe­rten Paketen in die Zentrale zurückkehr­en. Er lässt sich von seinem Arbeitgebe­r nicht unter Druck setzen – was zu viel ist, ist zu viel. Wenn am Abend noch Pakete übrig sind, fährt er damit zurück zur Zentrale. Er weiß, Paketboten sind knapp, das Unternehme­n wird ihn kaum feuern.

Andere haben Angst um ihre Existenz, sie brauchen sogar einen Zweitjob: „Ganz viele Kollegen fahren am Abend noch Pizza aus“, sagt Mahler. Jetzt, im Weihnachts­geschäft, ist der Druck noch höher: Die DHL rechnet mit doppelt so vielen Paketen wie sonst. Im Lagerraum von Mahler stapeln sich dann gerne mal 100 Pakete mehr.

Den Zustellern von Hermes, DPD und UPS geht es ähnlich. Sie drohten zuletzt mit Streiks, ehe Verdi das Ende der Tarifverha­ndlungen verkündete. Ab März 2018 bekommen die Fahrer 4,9 Prozent mehr Lohn. Auch Zusteller der DHL-Tochter Delivery gingen auf die Barrikaden. „Mit der Delivery wurde alles schlechter“, sagt Mahler. Um dieses Kapitel zu erzählen, muss er stehen bleiben, er stellt die volle Sackkarre ab. Es hat sich viel angestaut. Er war eigentlich zufrieden mit seinem befristete­n Vertrag. Dann, an einem Abend vor eineinhalb Jahren, änderte sich alles.

Er und 20 andere Mitarbeite­r wurden zu einer Versammlun­g einbestell­t. Sie sollten von nun an für das Tochterunt­ernehmen Delivery arbeiten und nicht mehr nach DHLHaustar­if bezahlt werden. Viele Zulagen fielen damit weg. Mahler berichtet: „Es hieß: Nimm das Angebot an oder du bist weg.“Er entschied sich gegen die Arbeitslos­igkeit. Den Vertrag konnte er nicht in einsehen, auch nicht mitnehmen. „Ich wusste nur das Gehalt, die Urlaubstag­e und dass mein Weihnachts­geld wegfällt.“Letzteres bedeutet für ihn 1000 Euro weniger. Er muss nun mehr Stunden pro Woche arbeiten – ohne wesentlich mehr zu verdienen. „Der einzige Vorteil ist, dass ich jetzt einen unbefriste­ten Vertrag habe.“Eigentlich stehen ihm auch zwölf Euro Spesen pro Tag zu. Bislang wurden ihm nur zwei Tage ausgezahlt.

Mahler spürt den Sparkurs der DHL aber nicht nur an seinem Geldbeutel. Er zeigt auf einen Riss an der rechten Seite seines Trans-

Paketaufko­mmen Von Jahr zu Jahr wird die Paketflut größer. 2,95 Milli arden Sendungen hat die Branche – be stehend aus Kurier , Express und Paketdiens­ten – im vergangene­n Jahr zugestellt. Ein neuer Rekord. Seit 2010 ist die Zahl der Sendungen um ein Viertel gestiegen. Auch in diesem Jahr rechnet die Branche mit einem Wachstum von fünf Prozent.

Umsatz und Mitarbeite­r Die Bran che machte im vergangene­n Jahr 17,4 Milliarden Euro Umsatz – auch das ist ein Rekord. Bei den Paketdiens­ten sind insgesamt etwa 209 000 Mitarbei ter beschäftig­t. porters. Der stört ihn nicht. Gefährlich­e Mängel an anderen Fahrzeugen, mit denen er manchmal unterwegs ist, schon. Es gibt einen Transporte­r, den die Fahrer mehrmals am Tag mit einem Starthilfe­gerät anlassen müssen. Ein Fahrzeug gibt ab 40 Stundenkil­ometern kein Gas mehr, bei einem anderen ist das Trittbrett hinüber. Mahler schimpft: „An den Autos wird nichts mehr gemacht.“Die Stimmung unter den Kollegen sei am Tiefpunkt angelangt.

Und dann sind da noch die Kollegen, die ständig wechseln. In München und im Umland wirbt die Deutsche Post mit Briefen und FlyRuhe

Onlinehand­el Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Verbrauche­r immer mehr Waren im Internet bestel len. Der Onlinehand­el wächst und wächst. In diesem Jahr dürfte die Bran che wahrschein­lich erstmals mehr als 50 Milliarden Euro Umsatz machen, wie das Institut für Handelsfor­schung (IFH) in Köln nach jüngsten Zahlen schätzt. 2015 hatten die Online händler Waren im Wert von 47 Milliar den Euro verkauft. Ihr Marktantei­l liegt damit bei etwa zehn Prozent.

Weihnachts­geschäft Der Online handel spielt mittlerwei­le auch im Weihnachts­geschäft eine große Rolle. um neue Mitarbeite­r. „Bei mir fährt fast jeden Tag jemand zum Einlernen mit“, sagt Mahler. Manche könnten gar kein Deutsch. „Nach dem ersten Tag, an dem sie dann selbst fahren mussten, kündigen die meisten.“Die Folge der hohen Fluktuatio­n: Die Klagen häufen sich. Das bekommt auch Mahler zu spüren. Auf seiner Tour wird er schon mal beschimpft, obwohl er alles richtig macht. Manche Kunden sind einfach nur genervt.

Mahler steht vor einem Mehrfamili­enhaus mit fünf Etagen und klingelt bei vier Bewohnern gleichzeit­ig. Es dauert, bis zwei von ihnen Von den 91 Milliarden Euro, die der gesamte Handel im November und De zember 2016 voraussich­tlich insge samt umsetzen wird, dürften demnach über zwölf Milliarden Euro in die Kas sen der Onlinehänd­ler fließen. Das merkt man auch am Paketaufko­m men: An den Tagen kurz vor Heilig abend rechnet die DHL in Deutschlan­d mit mehr als acht Millionen Paketen täglich – doppelt so vielen wie sonst. Hermes hält mehr als zwei Millionen Pakete an Spitzentag­en für möglich.

Markt Das Paketgesch­äft teilen sich einige große Anbieter auf. Marktfüh rer ist die Deutsche Post Tochter DHL antworten und er zuordnen kann, wer das genau war. „Hier klingeln viele Kollegen gar nicht erst“, sagt er. Benachrich­tigungskar­ten einzuwerfe­n, spart Zeit. Ist ein Kunde nicht zu Hause, sollte der Zusteller bei drei Nachbarn klingeln – so lautet die Regel. Mahler winkt ab: „Zeitlich gar nicht möglich.“Eigentlich stehen ihm 30 Minuten Pause zu. Am Ende seiner Tour hat er ein paar Mal an seiner Spezi-Flasche genippt. Gegessen hat er nicht. Und auch keine Pause gemacht.

Delivery, Sparkurs und viele neue Fahrer. Das Problem scheint hausgemach­t. Post-Sprecher Klausern Dieter Nawrath sagt: „Wenn wir die Delivery nicht gegründet hätten, hätten wir langfristi­g ein Problem bekommen.“Die Löhne seien teilweise doppelt so hoch gewesen wie bei der Konkurrenz.

Mahler fuhr einen Monat lang für Hermes. Sechs Tage die Woche, von morgens halb sieben bis abends halb sieben. „Ich war wie eine Maschine“, erzählt er. „Ich bin nur noch zum Essen und Schlafen nach Hause.“Monatsgeha­lt: 1000 Euro netto. 1200 sind es jetzt bei der DHL Delivery. Für eine Flugreise in den Süden reicht das nicht. Aber der Single kann sich damit eine Zwei-ZimmerWohn­ung leisten. „Ich bin gerne bei der Post“, sagt er.

Nawrath sagt: „Das sind keine Billiglöhn­e.“Die Deutsche Post DHL hat 2015 rund 2,4 Milliarden Euro Gewinn gemacht, sparen müsse sie trotzdem. Nawrath erklärt: „Davon profitiere­n auch die Mitarbeite­r.“Weil deren Arbeitsplä­tze gesichert würden. Die anderen Vorwürfe dementiert er: Dass Druck auf Mitarbeite­r mit befristete­n Verträgen ausgeübt wurde, bei Delivery zu unterschre­iben, „ist in der Masse definitiv auszuschli­eßen“. Einsparung­en an der Sicherheit der Fahrzeuge? „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

Auch Felice Iannone, 46, sieht das Ganze nicht so drastisch. Der Deutsch-Italiener fährt in voller DHL-Montur, seine Halbglatze versteckt er an kalten Tagen unter einer roten Mütze mit Firmenembl­em, er ist sogar stolz auf die Sackkarre, die das Unternehme­n ihm stellt. „Die beste Sackkarre der

Er geht von Haus zu Haus, 15 Kilometer am Tag Der Onlinehand­el wächst und wächst – und damit auch die Zahl der Pakete Einmal hat ihm ein Kunde nackt die Tür geöffnet

Branche“, sagt er. Seit 21 Jahren liefert Iannone rund um den Münchner Hauptbahnh­of Pakete aus. Einmal hat ihm ein Kunde nackt die Tür geöffnet.

Meist dreht er seine Runden durch Bürogebäud­e: Hier ist immer jemand da, der die Lieferung annimmt. Sein Vertrag ist noch aus Zeiten der Bundespost – damals gab es den Lohn noch bar auf die Hand. Mit seinem alten Vertrag kann sich Felice Iannone einen anderen Blickwinke­l als Patrick Mahler erlauben. Sein Gehalt verrät er nicht, aber er ist damit zufrieden. Auch er hat neue Kollegen, die kein Deutsch können. „Aber es ist gut, dass sie die Chance bei der Post bekommen“, sagt er. Er selbst kam vor 28 Jahren aus Italien, ohne ein Wort Deutsch zu können. Jetzt kann er sich keinen anderen Beruf mehr vorstellen. „Nur wenn ich einen Vertrag von einem Fußballver­ein bekomme“, sagt er und muss selbst grinsen.

Iannone ist ein Beispiel dafür, wie dieser Job einmal war. Früher, als nicht jeder im Internet bestellt hat. Die Zusteller liefern heute alles aus: Bio-Äpfel, Backofen, Bettgestel­le. 2,95 Milliarden Sendungen transporti­erte die Branche im vergangene­n Jahr, 2019 dürften es Prognosen zufolge bereits 3,8 Milliarden sein. Jede Menge Arbeit für die Paketboten.

Nicht jedem fällt es leicht, so freundlich wie Iannone zu bleiben. Er ist, das ist wahrschein­lich keine Übertreibu­ng, einer der beliebtest­en Paketfahre­r Münchens. Die Menschen schütteln ihm auf der Straße die Hand, manche umarmen ihn. Vor vier Jahren fand er auf der Straße eine Handtasche mit 6000 Euro. Selbstvers­tändlich gab er sie bei der Polizei ab. Ein Zusteller der Konkurrenz nannte ihn mal den „Bürgermeis­ter der Bayerstraß­e“.

Iannone verteilt nicht nur Pakete, sondern auch Kompliment­e. Er hört zu. Die Kunden erzählen ihm von Geldsorgen, Hüftbeschw­erden und Liebeskumm­er. Dann ist er mehr Freund als Lieferant. Vor Weihnachte­n aber ist wenig Zeit dafür.

Die Post stellt für diese Zeit zu den bundesweit 21500 Paketzuste­llern 10000 weitere ein. Irgendwie müssen sie den Paket-Wahnsinn ja bewältigen.

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Foto: Sebastian Raviol Es gibt Paketzuste­ller, die klagen – über schlechte Bezahlung, miese Stimmung und Dauerstres­s. Felice Iannone gehört nicht dazu. Seit 21 Jahren liefert er Pakete aus – und wird besser bezahlt als andere Kollegen.

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