„Europa muss sich für Aleppo schämen“
Interview Bundesentwicklungsminister Gerd Müller warnt vor einer Rückkehr der Flüchtlingskrise. Der CSU-Politiker erklärt, wie Deutschland Fluchtursachen vor Ort bekämpft und wie er eine drohende Massenzuwanderung aus Afrika verhindern will
In Syrien eskaliert mit dem Kampf um Aleppo der Bürgerkrieg. Die dort leidenden Menschen fühlen sich von der Welt im Stich gelassen. Hat die Flüchtlingskrise dazu geführt, dass es in Europa weniger Mitgefühl gibt? Gerd Müller: Wir machen uns mitschuldig, wenn wir warten, bis alles zusammenbricht. Wir müssen uns so kurz vor Weihnachten fragen: Wo sind die Spenden-Aufrufe? Wo ist die Friedensbewegung auf den Straßen gegen die syrischen und russischen Bomben? Angesichts der Lage in Aleppo ist es jämmerlich und beschämend, wenn kaum jemand aus Europa und der internationalen Staatengemeinschaft bereit ist, konkret vor Ort das Notwendige zu tun. Als deutscher Minister kann ich wenigstens sagen: Wir tun es. Mit unserer Hilfe werden zurzeit mobile Krankenstationen und Aufnahmelager für Flüchtlinge aus Aleppo und dem irakischen Mossul aufgebaut. Wir unterstützen die Helfer, die versuchen, den Menschen in Aleppo das Überleben zu sichern.
Ist es aber nicht fragwürdig, wenn Deutschland seine Flüchtlingspolitik mit Blick auf Syrien der Türkei unter Präsident Erdogan überlässt? Müller: Das stimmt nicht. Vor Ort in der Türkei wird auch von Deutschland Enormes geleistet. Seit September beschäftigen wir zum Beispiel 8 000 syrische Lehrer und Lehrerinnen, die in den türkischen Flüchtlingscamps und Städten hunderttausende syrische Kinder unterrichten. In der türkischen Innenpolitik gibt es vieles, was man kritisieren muss. Aber was die Flüchtlingsversorgung anbelangt, leistet die Türkei gute Arbeit. Die Türkei fängt durch die Aufnahme von drei Millionen Flüchtlingen einen enormen Problemdruck von Europa ab. Deshalb hat die Türkei ein Anrecht auf Unterstützung. Hier haben wir eher auf EU-Seite ein Problem.
Heißt das, an der türkischen Kritik an der EU bei der Umsetzung des Flüchtlingspakts ist etwas dran? Müller: Was Brüssel betrifft, funktioniert die Umsetzung nicht ausreichend. Eines der Probleme ist, dass von den zugesagten drei Milliarden Euro bislang nur 800 Millionen in Projekten umgesetzt wurden. Brüssel arbeitet zu kompliziert, zu langsam und ist zu weit weg. Es kann nicht sein, dass Hilfsmaßnahmen ein Jahr brauchen, bis sie bei den Menschen ankommen. Wir sind viel schneller. Deshalb habe ich Brüssel angeboten, dass wir die Umsetzung der EU-Hilfe mit unseren Strukturen in deutsch-türkischer Zusammenarbeit übernehmen können.
In Teilen der Bevölkerung wächst der Unmut, wenn die deutsche Verantwortung hier immer weiter steigt ... Müller: Es mag Menschen geben, die den Fernseher ausschalten, weil sie nichts mehr von der dramatischen Lage in Syrien hören wollen. Aber die Politik kann und darf das nicht ausblenden. Aber es gibt auch positive Entwicklungen: In den vergangenen Monaten sind 90 Prozent des Iraks vom Terror des IS befreit worden. Allein in der irakischen Region Tikrit konnten 130 000 Menschen mit deutscher Hilfe wieder zurückkehren. Das muss jetzt Priorität haben. Hier schaffen wir auch Beschäftigung. Mit unserem Programm „Cash for Work“sind bereits zehntausende Jobs entstanden: Die Menschen bekommen Baumaterial und einen Monatslohn dafür, dass sie ihre Häuser selber wieder aufbauen können. Das ist nur ein Beispiel von vielen im Nordirak, Libanon oder im türkisch-syrischen Grenzgebiet.
Ist das bei all den Krisen nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Müller: Seit meinem Amtsantritt ist der Etat des Entwicklungsministeriums um über ein Drittel gestiegen. Das gab es noch nie. Wir setzen allein zur Bekämpfung von Fluchtursachen drei Milliarden Euro ein. Wenn wir das nicht machen würden, kämen hunderttausende Flüchtlinge zusätzlich. In und um Syrien finanzieren wir 50 Prozent des Welternährungsprogramms. Denn bevor die Menschen und ihre Babys verhungern, flüchten sie zu uns. Laut den UN wären 22 Milliarden Dollar nötig, um den weltweit 65 Millionen Flüchtlingen das Überleben zu sichern. Fast die gleiche Summe geben wir in Deutschland für die eine Million Flüchtlinge hier aus. Vor Ort könnten wir damit ein Vielfaches bewegen. Mit einem Euro pro Tag kann ein Flüchtling ernährt werden.
Viele kommen aus Regionen, in denen kein Krieg und Hunger herrschen ... Müller: Wir starten in den kommenden Monaten ein neues Rückkehrprogramm für Asylbewerber, die in Deutschland keine Chance auf Anerkennung haben. Das sind inzwischen hunderttausende. Ich spreche nicht von Syrern, sondern von Menschen beispielsweise aus Marokko, Algerien oder dem Senegal. In Afri- ka haben sie falschen Versprechen von Schleppern geglaubt und tausende Dollar bezahlt. In Deutschland dürfen sie nicht arbeiten, sind unzufrieden oder verzweifelt. Doch sie wollen nicht in ihre Heimat zurück, weil sie fürchten, dort als Verlierer dazustehen. Wir müssen auf diese Menschen im eigenen Interesse zugehen, anstatt sie jahrelang in unserer Verfahrensbürokratie hängen zu lassen. Wir machen ihnen jetzt ein Angebot, damit sie eine neue Chance in ihrer Heimat bekommen und freiwillig zurückkehren.
Und warum soll das besser funktionieren, als die Betroffenen abzuschieben? Müller: Eine freiwillige Rückkehr wäre viel schneller als unsere langen Asylverfahren. Das kommt uns am Ende auch viel kostengünstiger, selbst wenn wir die Menschen vor Ort unterstützen. Konkret heißt das, wir holen die Flüchtlinge bei ihrer Rückkehr am Flugzeug an der Gangway ab und integrieren sie in unsere bestehenden Entwicklungsund Berufsprogramme vor Ort.
Schaffen Sie damit nicht noch mehr Anreize für eine Flucht, wenn Sie auch noch Jobgarantien versprechen? Müller: Nein, das darf natürlich keine Sogwirkung auslösen. Die Menschen, die sich nicht auf den Weg zu uns machen, haben den gleichen Zugang zu unseren Programmen. Wir haben bereits mit ähnlichen Programmen auf dem Balkan sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir erweitern das jetzt Schritt für Schritt auf andere Herkunftsstaaten. Dazu bauen wir Informationszentren vor Ort auf. Dort klären wir auch über die Gefahren der Flucht auf – nicht nur auf dem Mittelmeer: Ich habe selbst in der Wüstenstadt Agadez Menschen getroffen, die auf ihrer Flucht von Schleppern brutal gefoltert und verstümmelt wurden, um von ihren Familien Lösegeld zu erpressen.
Dennoch riskieren in Afrika Zigtausende ihr Leben für die Flucht. Wie kann man dieses Problem lösen? Müller: Der Kontinent Afrika liegt in Sichtweite Europas. Dort wird sich bis zum Jahr 2050 die Bevölkerung verdoppeln, ohne dass es Jobs oder Perspektiven für Millionen von Jugendlichen gibt. Deshalb müssen wir jetzt konkret handeln. Wir brauchen
„Die Bevölkerung Afrikas wird sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln, ohne dass es Jobs oder Perspektiven für Millionen Jugendliche gibt.“
CSU Minister Gerd Müller
eine neue Dimension der Zusammenarbeit mit dem gesamten Kontinent. Daran arbeite ich mit meinem Ministerium und vielen Experten. Das wird ein Marshallplan nicht für, sondern mit Afrika. 2017 wird das Afrika-Jahr. Die Kanzlerin macht Afrika zum Thema beim G20-Gipfel und es wird einen EUAfrika-Gipfel mit konkreten Entscheidungen geben.
Wie groß ist die Gefahr, dass sich die Flüchtlingskrise wieder verschärft? Müller: Wenn aus Syrien eine weitere Million Flüchtlinge in die Türkei kommt, könnte das Land das kaum bewältigen. Auch auf Italien und Griechenland nimmt der Druck zu. Und wenn sich in Ägypten die Situation nicht verbessert, müssen wir uns noch auf ganz andere Dimensionen einstellen. Deshalb müssen wir die Zusammenarbeit mit Nordafrika jetzt verstärken, damit vor allem die Jugend ihre Zukunft vor Ort und nicht in der Flucht nach Europa sieht. Interview: Michael Pohl O
Zur Person Der gebürtige Krumba cher Gerd Müller, 61, ist seit 2013 Ent wicklungsminister und lebt in Kempten.