Drei berühmte Worte aus Kanonen
Bundestag Hinter „Dem Deutschen Volke“steckt eine eigenartige und tragische Geschichte
Berlin Hundertfach wird der große Schriftzug am Bundestag täglich fotografiert. Regelmäßig ist er im Fernsehen hinter Hauptstadt-Reportern zu sehen. Aber kaum einer kennt die Geschichte dahinter. Vor genau 100 Jahren wurden die 17 Bronze-Buchstaben der Inschrift „Dem Deutschen Volke“an der Westfront des Reichstagsgebäudes angebracht. Bis es so weit war, blieb die Tafel aber lange Zeit blank.
Vor der Eröffnung des Gebäudes 1894 hatte man sich nicht auf eine Inschrift einigen können. Die drei Worte waren zwar in Skizzen des Baus vor der Fertigstellung deutlich zu sehen. „Die dafür zuständige Reichstagsbaukommission hatte 1893 mehrfach über diese Inschrift sowie Alternativvorschläge diskutiert und letztlich beschlossen, ganz darauf zu verzichten“, so die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Historiker vermuten, dass die Kommission im vorauseilenden Gehorsam handelte. Über der zehnjährigen Bauzeit des Reichstags waren zwei Kaiser gestorben. Nach Wilhelm I. und Friedrich III. hatte nun der Heißsporn Wilhelm II. die Amtsgeschäfte übernommen. Bekanntlich hatte er ein gestörtes Verhältnis zum „Affenhaus“, wie er den Reichstag nannte. Möglicherweise wollte man dem Kaiser mit dem Verzicht entgegenkommen. Genau belegen lässt sich das nicht. 20 Jahre lang interessierte die Leerstelle kaum jemanden im Reich.
Dann kam das Jahr 1916, das blutigste Jahr des Ersten Weltkriegs. Längst war die Kriegsbegeisterung verflogen. Eine Zeitung schlug vor, die alten Pläne von der Inschrift „Dem deutschen Volke“endlich umzusetzen, um die Moral zu heben. Dann ging der nächste Zank los – um die Schriftart. Industriedesigner Peter Behrens, der unter anderem das bekannte Logo der Elektromarke AEG erfand, entwickelte die Schrift. Sie ist in ihrem grafischen Mischmasch ein beredtes Zeugnis des jahrelangen Behörden-Hickhacks um die drei Worte. Immerhin: Der Reichstag erhielt dann doch Bronze von zwei Kanonen, die man in den Befreiungskriegen gegen Frankreich (1813–1815) erbeutet hatte. Den Auftrag übernahm die Berliner Bronzegießerei Loevy. Die Mitglieder der Familie Loevy starben später im Nazi-Terror in Konzentrationslagern oder flohen ins US-Exil. An sie erinnert heute eine Tafel an der Fassade mit der Inschrift.
Das Anbringen der Buchstaben weckte kein nennenswertes Interesse. Man hatte andere Probleme. In der soeben zu Ende gegangenen Schlacht um Verdun waren abertausende junger Männer gefallen. Der erhoffte PR-Gag an der Parlamentsmauer verpuffte still. Die Schrift überstand den Reichstagsbrand 1933, die Bombardierung, die deutsche Teilung und die Verhüllung durch Christo. Später folgte noch manche Verpackung aus politischen Gründen: 2007 etwa seilten sich Kritiker des Bundestags am Gebäude ab und spannten zeitweise das Transparent „Der Deutschen Wirtschaft“vor die Schrift. (dpa)