Donau Zeitung

München, Weltstadt mit Schmerz

Kein Ereignis hat die Landeshaup­tstadt in diesem Jahr so geprägt wie der Amoklauf am Olympia-Einkaufsze­ntrum. Fünf Monate danach herrscht dort fast normaler Weihnachts­trubel. Doch wer genauer hinschaut, spürt, dass die Normalität noch ganz weit weg ist

- VON ALEXANDRA SCHNEID

München Einige Kunden wird Sevil Koc-Kinzel nie mehr in ihrem Friseursal­on begrüßen können. Sie wird nie mehr mit ihnen über Formen und Farben diskutiere­n, über das Wetter und das Oktoberfes­t; nie mehr am Ende fragen, ob sie etwas Gel ins Haar schmieren soll. Nur ihre Gesichter, die kann sie jeden Tag noch sehen, auf den Fotos, die zwischen Teddybären und Grablichte­rn vor dem Olympia-Einkaufsze­ntrum liegen. Dem OEZ, wie die Münchner sagen. Vor fast fünf Monaten, am 22. Juli, hat ein 18-jähriger Amokläufer hier im Stadtteil Moosach neun Menschen getötet. Und noch immer liegen die Fotos der Opfer an diesem Ort. Was sind schon fünf Monate?

Sevil Koc-Kinzel, dunkle Augen, braune Brille, steht an der Kasse ihres Salons und vergibt Termine. Ihre schwarzen feinen Haare reichen ihr bis zur Schulter. Im Hintergrun­d surrt der Föhn und klappert eine Schere. Bald ist Weihnachte­n, da möchte natürlich jeder zum Fest schön sein.

Der 22. Juli 2016, ein Freitagabe­nd. Koc-Kinzel wird diesen Tag nie vergessen. „Wir waren gerade mit unseren Kunden beschäftig­t, als Leute an unserem Geschäft vorbeigera­nnt sind und schrien: Raus, der schießt!“Sie macht einen Schritt aus ihrem Geschäft heraus. „Da“, sagt sie und zeigt auf den Gang, wo gerade Menschen an den Schaufenst­ern entlangsch­lendern. „Von da sind die Schüsse gekommen.“

Dann sei alles ganz schnell gegangen. Kollegen und Kunden rannten durch den Nordausgan­g des Einkaufsze­ntrums zu einem nahe gelegenen Parkplatz, auf dem sich bereits Polizisten positionie­rt hatten. „Wir dachten, dort sind wir am sichersten“, erzählt Koc-Kinzel. Das waren sie.

Und doch hat das Drama die Friseurin schwer mitgenomme­n. Sie erlitt einen Hörsturz. Heute, sagt sie, gehe es ihr besser. Und die Kunden, die teilweise monatelang das OEZ gemieden haben, kämen in der Vorweihnac­htszeit auch langsam wieder. Jetzt, wo an jedem Pfeiler des zweistöcki­gen Einkaufsze­ntrums ein mannshoher PlastikChr­istbaum steht, festlich geschmückt mit goldenen Kugeln und Lichterket­te. Von der Decke baumeln große goldene Sterne. In einem Schaufenst­er am Eingang grinst ein lebensgroß­er Weihnachts­mann aus Bauklötzen die Besucher an. Wie es zu dieser Jahreszeit in einer Shoppingme­ile üblich ist.

Vor ein paar Wochen hat OEZManager Christoph von Oelhafen in einem Interview gesagt, er habe immer noch den Eindruck, dass weniger Kunden zum Einkaufen kommen als vor dem Attentat. Nachfragen kann man in diesen Tagen nicht, er macht gerade Urlaub.

Bei allen Versuchen, wieder zur Normalität zurückzuke­hren, hat das Management in einem Punkt doch etwas geändert: Luftballon­s sind derzeit verboten. Sollte einer platzen, könne das die Mitarbeite­r wieder an den Amoklauf erinnern, hat von Oelhafen dies begründet. Er sagt: „Wir wollen nach und nach erreichen, dass das OEZ wieder als das wahrgenomm­en wird, was es früher war.“Als ein Einkaufsze­ntrum, in dem schon die Großeltern eingekauft haben.

Wenn das so einfach wäre. Was sind schon fünf Monate?

In einer Malecke sitzen Mütter an der Seite ihrer Kinder, sie basteln zusammen Papier-Christbäum­e. Kaum vorstellba­r, dass genau hier im Juli Menschen um ihr Leben gerannt sind. Was genau an jenem Tag passiert ist, weiß die Mitarbeite­rin eines Bekleidung­sgeschäfts, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, nur aus Erzählunge­n und den Medien. Ausgerechn­et an diesem Tag hatte sie frei. Welch ein Zufall. Welch ein Glück.

Damals hat die junge Frau mit den langen blonden Haaren und den rot geschminkt­en Lippen gleich an ihre Kollegin denken müssen, die zu diesem Zeitpunkt im Laden stand. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, vergeblich“, sagt sie. Erst am Tag darauf, am Samstagvor­mittag, kam die erlösende Nachricht: Der Kollegin geht es gut. Sie hatte ihr Handy im Laden liegen lassen, als sie durch den Notausgang ins Freie geflüchtet war. Dem anfänglich­en Schock ist Zuversicht gewichen: „Man muss positiv denken. So etwas kann überall passieren.“

Manche Mitarbeite­r haben den Horror mit profession­eller Hilfe aufgearbei­tet. Andere versuchen wiederum, durch Verdrängen mit dem traumatisc­hen Ereignis fertig zu werden. Fragt man beispielsw­eise den Kellner eines Cafés, bekommt man als Antwort: „Es hat keinen Sinn, darüber zu reden. Das ist Vergangenh­eit“, sagt er und wischt mit einem feuchten Lappen über den Tresen. Gleiches in einem Lebensmitt­elgeschäft. Eine Verkäuferi­n schüttelt den Kopf und wendet sich wieder der Kundschaft zu. In einem Brillenges­chäft lassen Mitarbeite­r, die an jenem Freitag Dienst hatten, über ihre Kollegen ausrichten: „Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.“

Als Hubertus Andrä in den Tagen nach dem Amoklauf von Pressekonf­erenz zu Pressekonf­erenz eilte, als er vor einem Berg an Fragen stand, weil wenn jemand das Unerklärli­che erklären kann, dann doch er – da gab es so kurze Momente, in denen der Eindruck entstand, ihm reicht es jetzt auch. Der Münchner Polizeiprä­sident hat dann trotzdem tapfer Antworten gegeben, selbst zu einem Zeitpunkt, als so vieles noch unklar war. Solche Tage gehen ja auch an einem Sicherheit­sprofi nicht spurlos vorüber.

Gestern Mittag sitzt er in Dienstunif­orm im Münchner Presseclub zwei Dutzend Journalist­en gegenüber. In zwei Wochen ist Silvester. Ein guter Zeitpunkt, um auf das Jahr zurückzubl­icken. Einem Jahr mit unglaublic­h vielen Einsätzen. Natürlich geht es auch um den Amoklauf. Der so prägend war für die ganze Stadt. Da sitzt Andrä also und erzählt. Darüber etwa, wie er von der Schreckens­nachricht erfahren hat: „Ich war mit Führungskr­äften am Tegernsee, als ein Kollege einen Anruf bekommen hat, in München seien Schüsse gefallen.“Umgehend haben sie sich ins Auto gesetzt und sind zum Tatort gefahren.

Der Polizeiprä­sident plaudert mit gefalteten Händen und ruhiger, fester Stimme. Das ganze Land hat ihn so kennengele­rnt, als damals die Pressekonf­erenzen live im Fernsehen übertragen wurden. Neben ihm sitzt der Polizeispr­echer Marcus da Gloria Martins. Tagelang war vor allem er das Gesicht und die Stimme der Münchner Polizei. Kameras, Mikrofone und Scheinwerf­er waren auf ihn gerichtet.

Gestern ist das anders: Er überlässt seinem Chef das Wort. Nur als da Gloria Martins auf seine Leistung in der Nacht des Amoklaufs und auf den Medienrumm­el um ihn angesproch­en wird, antwortet er knapp: „Die eigentlich­e Dienstleis­tung passiert auf der Straße.“Das muss reichen.

2300 Polizisten waren an jenem Tag im Einsatz, darunter Spezialein­heiten und Beamte aus anderen Bundesländ­ern, ja sogar aus dem Ausland. Andrä sagt heute: „Der Einsatz im OEZ hat uns ganz massiv gefordert.“Und dann waren da noch all die anderen Einsätze. Angefangen hat es schon in der Silvestern­acht mit einer Terrorwarn­ung, stundenlan­g war der Hauptbahnh­of gesperrt. Im Herbst kam dann die Wiesn. Dann die anderen Einsätze, die Fußballspi­ele etwa. Andrä sagt: „Die Einsatzbel­astung war und ist enorm hoch, aber die Motivation der Kollegen auch.“Er geht davon aus, dass es im kommenden Jahr nicht besser oder leichter wird. Da kämen dann noch die politische­n Veranstalt­ungen im Vorfeld der Bundestags­wahl dazu, die ganzen Kundgebung­en. Jetzt erst einmal Silvester. Ein kribbelige­r Termin mit Blick auf die Geschehnis­se vor einem Jahr in Köln.

Und das alles, wo doch die Amoknacht von Moosach selbst nach knapp fünf Monaten noch nicht ganz aufgearbei­tet ist. Mit betroffene­n Kollegen sprechen, ihre Erfahrunge­n und Eindrücke aufnehmen, Twitter-Nachrichte­n auswerten – all das braucht eben Zeit.

Der Amoklauf in München – kein anderes Ereignis hat die Stadt 2016 so geprägt. Verständli­ch, dass es viele am liebsten ganz aus ihrem Leben streichen würden. So wie die Verkäuferi­n eines Schmucklad­ens im OEZ. Die Bilder im Kopf, sie seien ständig da, sagt sie und fügt hinzu: „Ich will mir den Tag nicht in Erinnerung rufen.“Entspreche­nd ist sie auch nicht zum Plaudern aufgelegt. Dann sagt sie noch, dass die Kollegin, die an dem Tag Dienst hatte, nicht mehr da sei. Und auch ihr Leben habe sich geändert. „Ich meide den Haupteinga­ng und die Straße davor. Und in den McDonald’s werde ich nie wieder gehen.“Weil: „Der ist immer brechend voll. Ich kann das nicht verstehen.“

Der McDonald’s. Hier, schräg gegenüber des Einkaufsze­ntrums, begann der Amoklauf. Hier starben die ersten fünf Menschen. Das Video, das den Täter zeigt, wie er aus dem Schnellimb­iss stürmt, seine Waffe zückt und auf Passanten schießt, lief im Fernsehen rauf und runter. Nach der Tat blieb die Filiale erst einmal geschlosse­n. Anfang Oktober öffnete sie wieder – in rundum neuer Aufmachung. Die Inneneinri­chtung in Holzoptik wirkt modern. Im Eingangsbe­reich wählen die Kunden ihr Menü mithilfe eines elektronis­chen Bestellsys­tems aus. Natürlich erinnert hier nichts mehr an die Gewalttat. Reden will auch niemand mehr darüber.

Und doch lässt sich das alles nicht ausblenden. Mehrere kleinere Gedenkstät­ten, die noch immer vom McDonald’s bis zu den Treppen der U-Bahn-Station reichen, erinnern an die Opfer. Grablichte­r und herunterge­brannte Teelichter bedecken den Gehweg, rotes und weißes Wachs klebt auf den Pflasterst­einen. Verwelkte Blumen stehen in Vasen auf dem Boden. Ein Bild wie vor fünf Monaten. Die Anteilnahm­e, sie ist geblieben. Dazwischen haben Angehörige Bilderrahm­en mit den Fotos der getöteten Jugendlich­en drapiert, außerdem ein Foto der letzten SMS-Nachricht an eines der Opfer. Um 1.32 Uhr schrieb ein Freund: „Ich mach mir langsam Sorgen um dich. Wo bist du? Melde dich bei mir bitte. Ich hab Angst.“Zwei Sträuße weißer Rosen umrahmen die kleine Gedenkstät­te.

Auf der anderen Straßensei­te, direkt vor dem OEZ, sieht es nicht anders aus: Kerzen, Blumen und Plakate liegen vor den Stufen, die ins Einkaufsze­ntrum führen. Plastikfol­ien umhüllen Fotos, um sie vor der Witterung zu schützen. Der Regen hat das Fell der Teddybären verfilzt. Im Sekundenta­kt rasen Autos vorbei. Das Leben hält nicht an.

Einige Passanten bleiben dann doch stehen. Der Blick einer älteren Dame fällt auf das Foto eines Jugendlich­en. „Alle waren so jung. Sie hatten noch ihr ganzes Leben vor sich“, murmelt sie. Dann geht sie mit gesenktem Kopf weiter.

Was sind schon fünf Monate?

„Von da sind die Schüsse gekommen.“

Sevil Koc Kinzel, Inhaberin eines Friseursal­ons „Der Einsatz im Einkaufsze­ntrum hat uns massiv gefordert.“

Hubertus Andrä, Polizeiprä­sident von München

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Fotos (2): Bernhard Weizenegge­r Frage und Mahnung zugleich: Dieses Schild vor dem Haupteinga­ng des Olympia Einkaufsze­ntrums erinnert an den Münchner Amoklauf vor knapp fünf Monaten.
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Es herrscht jetzt vor Weihnachte­n wieder so etwas wie Einkaufstr­ubel im OEZ. Mo natelang haben viele Kunden die Shoppingme­ile gemieden.
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Foto: Sven Hoppe, dpa Der Ermittler: Polizeiprä­sident Hubertus Andrä.
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Foto: Alexandra Schneid Die Augenzeugi­n: Sevil Koc Kinzel in ih rem Friseursal­on.

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