Wahrheit für das Volk
Philosophie Postfaktisch und postdemokratisch – mit diesen Schlagworten werden Gefahren für Politik und Staat heute umrissen. Was tun? Der „Meister aller Wissenden“hilft. Er warnt vor der Übermacht von Meinungen und Idealen
Es gibt da diesen wunderbaren Satz, den Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“dem späten Beethoven zuschreibt. Demnach antwortete der Komponist einem Musiker, der sich über die praktische Unspielbarkeit von dessen Streichquartett in a-Moll beschwerte: „Was geht mich Ihre verdammte Geige an!“
Nun mag es das Vorrecht des großen Künstlers sein, für die Kunst allein den Himmel und die Ewigkeit zu komponieren und womöglich auch auf spätere Virtuosen zu vertrauen. In der Staatskunst aber, die wir längst Politik zu nennen gewohnt sind, wäre das am Wesentlichen vorbeigedacht. Man kann noch so Ideales komponieren – es kommt gerade auch auf die Geiger an, also die tatsächlichen Fähigkeiten der gegenwärtigen Menschen.
Diesen realistischen Blick hat einer gelehrt, der bereits vor 2400 Jahren geboren wurde, den spätere Genies wie Dante als „Meister aller Wissenden“rühmten und dessen Andenken die Unesco das Jahr 2016 gewidmet hat: der Philosoph Aristoteles, geboren in Makedonien, wirkend in Athen. Und wie passgenau erscheint dessen Mahnung gerade für dieses problematische Politikjahr!
Denn so wie es in Richtung Trump und LePen, Hofer und Petry als Vorwurf schallt, hier würde mit mindestens verzerrten wenn nicht auf Unwahrheiten bauenden Versionen der Wirklichkeit Stimmung gemacht, so schallt es zurück: das moralisch vermeintlich so wohlfeile Toleranzprogramm der Gegenseite sei idealistische Volkspädagogik, blind für die tatsächlichen Zustände und die wirklichen Menschen im Land. Postfaktisch heißt das mit dem Wort des Jahres.
Und in einem schon seit längerem kursierenden zweiten „Post“-Wort scheint zudem auf, wer in der Krise der Politik als legitimierte und effektive Volksvertretung tatsächlich über die Wirklichkeit zu regieren droht: die Wirtschaft, die Lobbys, der Markt, die neue Geldaristokratie in Zeiten des globalen Turbokapitalismus. Postdemokratisch heißt das dann, wobei das lateinische „post“als eigentlich zeitliches „danach“den Verfall beschreibt: Die Wahrheitsbasis ist wie die Demokratie unterwandert und überbaut, ausgehöhlt und ersetzt.
Der antike Aristoteles mag etwa mit seinem Blick auf die Rolle der Frauen und auf das Sklaventum Mensch seiner Zeit gewesen sein – aber zu diesen beiden grundlegenden Fragen hat er wie zu so unendlich vielem anderen bis heute systematisch Klares und damit Klarheit Schaffendes zu sagen. Denn als Naturforscher und Philosoph ging er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Platon immer von dem aus, was ist, um die Prinzipien zu erkennen und damit auch den Zusammenhang von Ideal und Wirklichkeit. Denn: „Wir philosophieren nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden.“Es ging ihm um die Praxis des guten Lebens – nicht vom wohlfeil pädagogischen Ideenhimmel herkommend, aber auch nicht auf die pure Gestimmtheit der Gegen- wart beschränkt. Ein Brückenbauer der Wahrheit. Auch für die Politik.
Zwei Grundbefunde zieht Aristoteles aus seiner Analyse der Wirklichkeit: Der Mensch strebt nach dem Glück; und er ist ein „von Natur aus politisches Wesen“. Das heißt, erst in einer Gemeinschaft von Nutzen und Schaden, von Recht und Unrecht entfaltet er sich. Und so hängt beides letztlich auch zusammen. Denn der eigene Lustgewinn, Wohlstand und Sicherheit mögen zum Glück des Einzelnen beitragen; aber das höchste Glück empfindet er, wenn sich der Mensch frei und ernsthaft in der Gemeinschaft für das Gerechte einsetzt, also „ein ethisch hochstehendes Leben“ führt: „Gerechtigkeit nämlich und Tapferkeit und die anderen ethischen Werte verwirklichen wir von Mensch zu Mensch, indem wir in Geschäftssachen, in der Stunde der Not, in den verschiedenen Situationen und auch bei den Regungen des Irrationalen das beachten, worauf jeder billigerweise Anspruch hat“(Nikomachische Ethik). Und wohlgemerkt: Hier geht es bislang nur um das höchste Glück für den Einzelnen, das er dadurch erlangt.
Wenn es um die Folgen für die Gemeinschaft, also die Politik als Staatskunst geht, zeigt sich, wie wenig ideologisch der Ansatz des Aristoteles ist. Denn, um zu zeigen, welche Regierung richtig oder falsch, gut oder schlecht ist, knüpft der Philosoph weder an seinen eigenen Ein-Gott-Glauben vom „unbewegten Beweger“noch an die vielen Götter der athenischen Volksreligion an. Er betrachtet – freilich in der Beschränktheit der damaligen Welt – schlichtweg, was funktioniert und was nicht. Legitim sind gemäß seiner Schrift „Politik“Verfassungen, die dem Gemeinwohl dienen, illegitim solche, die bloß Interessen der Herrschenden verfolgen. So können für diesen Denker Königtum und Aristokratie durchaus gut sein, wenn die Regierenden im Sinne der Vernunft handeln (gegen die Verfallsform der Tyrannei und Oligarchie hat Aristoteles selbst als Lehrer der Akademie und später von Alexander dem Großen gearbeitet).
Das, was wir heute Demokratie nennen, kennt bei Aristoteles ebenso beide Seiten: Wenn Demokratie nur die Interessen des Volkes verfolgt, das sich in seinen Stimmungen und Meinungen an keine Gesetze binden lässt, ist sie schlecht. Als Verfassungsstaat aber, in dem die Bürgerschaft frei und gleich politisch mitwirkt und so im Rahmen der Gesetze an der Macht beteiligt ist, ist sie gut. So schließt sich der
Regierung und Bürgern muss es ums Gemeinwohl gehen Fällt der Verfassungsstaat, droht die Tyrannei
Bogen zum persönlichen Glück des Einzelnen.
Das mag abstrakt wirken, hat gerade uns Heutigen aber doch ganz Konkretes zu sagen: Weder die Summe der Einzelstimmungen noch die Befugnisse der Herrschenden dürfen über Wirklichkeit und Wahrheit in der Demokratie bestimmen. Dem Bürger wie dem Politiker muss es um der Gerechtigkeit und seiner selbst Willen um das Gemeinwohl gehen. Darüber zu bestimmen, was das bedeutet, haben im Rahmen der Verfassung und auf der Grundlage der Menschenrechte die Regierenden – und zwar in Verantwortung vor den freien und gleichen Mitgliedern der Gemeinschaft, von denen sich auch möglichst viele am Austausch über die Werte beteiligen sollen.
2350 Jahre alte Selbstverständlichkeiten? Während im Jahr 2016 der Boden der Wirklichkeit selbst postfaktisch ins Wanken geriet, wo die Demokratie doch zumindest fundiert sein sollte, um keine PostDemokratie zu sein? Nach dem Verfall des Verfassungsstaats jedenfalls droht, auch das lehrt Aristoteles: die Tyrannei. Die Komponisten also mögen auf die Geiger achten. Aber auch die Geiger auf die Komposition. Schließlich geht es um das gute Leben aller. Und darum, das Richtige zu tun statt recht zu haben.