Fötus hört mit
Literatur Wunderbar albern: Der Brite Ian McEwan erzählt den Hamlet-Stoff aus neuer Perspektive
Darauf sollte der anständige Verbrecher ja schon achten. Dass er keine Mitwisser hat! In diesem Fall aber ist den Verbrechern kein Vorwurf zu machen. Wer nämlich käme schon auf die Idee, dass da im schwellenden Mutterbauch ein ungeborenes Kind sich durchs Lauschen ein erstes Bild von der Welt macht und so auch vom schändlichen Plan erfährt.
Das Kind trägt keinen Namen. Aber an wen der Schriftsteller Ian McEwan beim Schreiben seines Romans „Nussschale“gedacht hat, offenbart er schon im Titel. Auch der trägt nämlich bereits ein Zitat aus Shakespeares Hamlet: „O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“Ein kleiner Hamlet also wartet auf seine Geburt, und wie im Original ist auch bei McEwan die Zeit böse aus den Fugen geraten, herrscht Unfriede im Haus und daher auch ein schlechtes Bauchgefühl. Mutter Trudy nämlich macht es wie einst Shakespeares Gertrude. Legt sich mit dem Bruder ihres Mannes ins Bett, schmiedet mit dem gemeine Mordpläne. Gier und nicht Liebe treibt das verruchte Paar voran: Der Ehemann ist zwar ein eher glückloser Lyriker und Verleger, sein Haus durch und durch marode, aber die Immobilie steht in bester Londoner Lage – und wäre beim Verkauf Millionen wert. Ein Erbe, das sich lohnt...
So weit zum klassischen Stoff, den McEwan zur eloquenten Suada eines Ungeborenen formt und damit zur kleinen eleganten Verbeugung vor dem Großdichter der Welt: Lässiger ist das im Shakespeare-Jahr wohl keinem gelungen. Mit diesem Klein-Hamlet kann der DänenPrinz es jedenfalls weder an Wissen noch an Format aufnehmen. Weil die Mutter Trudy rund um die Uhr Radio und am liebsten die Wissenspodcasts des BBC hört, weiß der nämlich schon altklug ebenso über Weltpolitik zu plaudern wie über Madenzucht in Utah, die Erderwärmung oder die Risiken durch gentechnisch verändertes Saatgut. Geradezu süchtig ist er nach dem Nachrichtenstoff, tritt absichtlich seine Mutter, damit die sich nächtens ihre Dosis Wissen zuführt. „Grausam, ich weiß, aber am nächsten Morgen waren wir beide besser informiert.“Und weil die Mutter zu im Grunde jeder Tageszeit gerne das eine oder andere Glas Wein trinkt, kann der kleine Hamlet gar treffsicher die Sorten identifizieren und hat bereits eigene Vorlieben gebildet. „Wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt!“Was er aber auch erdulden muss, weil die Mutter nicht ohne kann: wilden Sex, zum Glück stets nur drei Minuten lang. Überhaupt, Claude, der Onkel, schmierig-gieriger Blödian – das Netteste, was dem Neffen zu ihm einfällt: „Seine Geistlosigkeit hat etwas Poetisches.“Wegen Claude muss sich der Prinz in seiner Nussschale um den Vater sorgen, aber auch um die eigene Zukunft. Was um Gottes Willen, wenn die Mutter ihn zur Adoption freigibt, er in einer Prekariatsfamilie aufwachsen muss: „Eine Kindheit mit Computerspielen statt Büchern, mit Zucker, Fett und körperlicher Züchtigung. Keine Gutenachtgeschichten, um meine Hirnplastizität zu fördern. Die neugierfreie Gedankenwelt der modernen englischen Unterschicht.“
Klingt das absurd? Natürlich, ist es auch im besten Sinne. Absurd, komisch, schräg, aberwitzig, aber vorgetragen mit solcher Sprachund Erzähllust, dass man dem frühentwickelten Besserwisserchen auch gelegentliches Abschweifen verzeiht. Statt eines Dramas also eine gekonnte literarische Spielerei, die Ian McEwan enden lässt, wie es kommen musste: Mit einer Geburt! Klein-Hamlet nämlich scheut zur rechten Zeit vor entschiedenem Handeln nicht zurück – entscheidet sich trotz gewisser Angst vorm Leben für das Sein.
Ian McEwan: Nussschale.