Missbraucht
Kriminalität Ein beispielloser Sex-Skandal erschüttert den englischen Fußball. Ein Opfer nach dem anderen bricht sein Schweigen. Und es ist bei weitem nicht der erste Skandal. Gibt es auf der Insel ein grundsätzliches Problem – oder wird dort nur besser e
London Soll das „normal“gewesen sein? Dass sich alle minderjährigen Jungs nackt aufs Bett werfen mussten und dann eine „sehr, sehr schnelle“Massage erhielten. Dass es Wettbewerbe darum gab, wer die meisten Haare am Hintern hat. Dass ausgerechnet der Fußballtrainer all diese Dinge von seinen jugendlichen Schützlingen forderte. All das – „normal“? So seltsam es klingt: Was das betrifft, war sich Matt Le Tissier als Teenager unsicher. Auch wenn sich der spätere englische Nationalspieler mulmig fühlte beim Gedanken an Nacktmassagen mit Seife. Aber seine Kumpels waren ja dabei, sie lagen auch unbekleidet auf dem Bett. Also rissen sie aus Unsicherheit lieber Witze über die sonderbaren Präferenzen ihres Trainers Bob Higgins.
Heute zuckt Le Tissier, 48, bei der Frage nach der Vergangenheit fast ratlos die Schultern, weicht dem Blick des Gegenübers aus und schaut lieber konzentriert auf den Boden, als wisse er selbst nicht, warum er erst jetzt, mehr als 30 Jahre später, von seinen Erfahrungen berichtet. Im Rückblick betrachtet der Mann die Vorfälle als „sehr, sehr falsch“. Mehr noch: „Es ist ekelhaft“, sagt Le Tissier, der beinahe seine gesamte Karriere lang für den FC Southampton auflief. Und doch fühlt er sich nicht als Missbrauchsopfer, bezeichnet sich vielmehr als jemand, der Glück gehabt habe. Anderen, sagt er, sei viel Schlimmeres widerfahren.
Tatsächlich melden sich seit Wochen ehemalige Fußball-Profis und -Amateure, die von ihren Leidensgeschichten im Kinder- und Teenager-Alter erzählen. Der Skandal weitet sich von Tag zu Tag aus. Die Koordinierungsstelle der ermittelnden Behörden spricht mittlerweile von 83 Verdächtigen. Mindestens 98 Vereine, inklusive Premier-LeagueKlubs, sind betroffen. Die Zahl der Opfer liegt bei mehr als 350. Allein in London befasst sich die Polizei mit mehr als 100 Vorwürfen gegen 30 Vereine, vier davon spielen in der höchsten Liga. Binnen drei Wochen haben sich rund 1700 Menschen mit Hinweisen bei einer Telefon-Hotline gemeldet, die gemeinsam mit dem Fußballverband FA von der NSPCC eingerichtet wurde. Nach offiziellen Angaben waren die jüngsten Opfer sieben, die ältesten 20 Jahre alt. Die erschreckenden Zahlen deuten an: Sexuelle Übergriffe in den Jugendabteilungen der Vereine waren in den 70er, 80er und 90er Jahren weit verbreitet. Und erst jetzt beginnt der britische Fußball, dieses schmutzige Kapitel seiner Vergangenheit aufzuarbeiten.
Den Anfang machte der 43-jährige Ex-Spieler Andy Woodward, der vor einigen Wochen von seinen Erfahrungen im Alter zwischen elf und 15 Jahren beim Klub Crewe Alexandra berichtete, der heute in der vierten Liga spielt. Dort verwandelten sich die Träume des Sporttalents in Albträume. Der erfolgreiche, gut vernetzte Trainer Barry Bennell betatschte, missbrauchte, vergewaltigte. Aus Angst, eine spätere Karriere aufs Spiel zu setzen, schwiegen Woodward und die anderen Kinder und Jugendlichen.
Als ein Junge seinen Eltern schlussendlich von den Übergriffen erzählte, landete Bennell 1994 in den USA im Gefängnis. Einige Jahre später wurde er, zurück in Großbritannien, für einen anderen Fall abermals zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Pädophile war Medienberichten zufolge unter anderem auch für Manchester City tätig. Eine interne FA-Untersuchung soll nun klären, „welche Information der Verband während der relevanten Zeit hatte und welche Maßnahmen hätten ergriffen werden sollen“.
Die jetzigen Offenbarungen wecken schreckliche Erinnerungen auf der Insel. In den vergangenen Jahren wurde das Land regelmäßig von Missbrauchsskandalen erschüttert. Viele Vergehen liegen lange zurück. Begonnen hat die juristische Aufarbeitung jedoch erst spät im Zuge der Ermittlungen um den mittlerweile verstorbenen Star-Moderator Jimmy Savile, der über Jahrzehnte hinweg hunderte Kinder und Erwachsene missbrauchte und sich sogar an Leichen vergangen haben soll. Angestellte des britischen Senders BBC sollen bereits kurz nach Saviles von den Anschuldigungen gegen den Entertainer gewusst haben.
Doch auch andere schillernde Prominente trieben damals hinter der Bühne ihr Unwesen. Der Glamour-Rocker Gary Glitter etwa, der seine pädophilen Neigungen auslebte, indem er sich an jungen Mädchen verging. Anfang 2015 wurde der heute 72-Jährige von einem Londoner Gericht des Missbrauchs Minderjähriger sowie der versuchten Vergewaltigung schuldig gesprochen. 40 Jahre blieb der Ex-Rocker ohne Strafe – aufgrund einer „Immunität des Ruhms“, wie es der Staatsanwalt nannte.
Die Enthüllungen trafen jedoch keineswegs nur die EntertainmentBranche. Auch das Umfeld von Westminster könnte betroffen sein, weshalb seit Jahren eine groß angelegte, vom Innenministerium beauftragte Untersuchung historischer Missbrauchsfälle im Umfeld von Politik und Prominenz stattfindet. Die Arbeit aber zieht sich hin, was bei vielen Opfern für Frustration sorgt. Am Freitag gab die Vorsitzende Alex Jay bekannt, dass erst im Jahr 2020 mit umfangreichen Berichten zu rechnen sein wird.
Ein wirklicher gesellschaftlicher Diskurs über mögliche Gründe all dieser Fälle findet auf der Insel bislang nicht statt. Will keiner hinter die Fassade von Höflichkeit und poKinderschutzorganisation litischer Korrektheit blicken? Warum hat oft das ganze System versagt? Die Skandale sorgen zwar jedes Mal für Schockzustände und Empörung, Verbindungen will aber kaum jemand herstellen.
Tatsächlich verbergen sich hinter den meisten Missbrauchsfällen unterschiedliche Beweggründe, unterschiedliche Täter, unterschiedliche Umstände. Trotzdem fällt die Häufung in Großbritannien auf. Oder werden Vorgänge aus der Vergangenheit im Königreich gerade nur mehr verfolgt und enthüllt als etwa in Deutschland? Die Hoffnung besteht, dass die öffentliche Untersuchung unter Leitung von Alex Jay auch Erklärungen zu gesellschaftlichen Zusammenhängen liefert.
Denn die Vergehen sind kaum zu begreifen. So wurden beispielsweise laut eines im März 2015 veröffentlichten Berichts einer KinderschutzKommission in der Grafschaft Oxfordshire 16 Jahre lang etwa 400 minderjährige Mädchen Opfer organisierter Banden mit meist pakistanischem Einwanderungshintergrund. Kinder und Jugendliche, viele lebten in staatlichen Heimen, wurden vergewaltigt, an andere Banden verkauft und gezwungen, Drogen zu nehmen. Obwohl sich manche Opfer an Sozialarbeiter oder die Polizei wandten, blieben die Anzeigen folgenlos. Dem Bericht zuTod folge herrschte eine „professionelle Toleranz“dafür, dass Minderjährige mit älteren Männern schlafen. Zudem wurden die Mädchen häufig als „frühreif und schwierig“statt als schutzbedürftig betrachtet. Gleichwohl hätte beim Jugendamt niemand die Verbindung zwischen all den Einzelfällen gezogen, wie ein Verantwortlicher im vergangenen Jahr entschuldigend zugab.
Einen weiteren abgründigen Fall gab es im nordenglischen Rotherham, wo zwischen 1997 und 2013 rund 1400 Kinder Opfer von Sexualverbrechen, begangen überwiegend von südasiatischen Einwanderern, wurden. Hinweise wurden von den Behörden jahrelang ignoriert, auch weil die Opfer vorwiegend aus sozial schwachen Milieus stammten. Dass die Täter nicht früher zur Verantwortung gezogen wurden, lag nicht nur daran, dass die Kinder zum Stillschweigen gebracht oder in psychischer Hinsicht von älteren Männern zu Sklaven gemacht wurden. Denn selbst, wenn sie sich jemandem anvertrauten, wollten die Behörden ihnen nicht glauben.
Der Untersuchungsbericht ging zudem davon aus, dass auch die Herkunft und Religion der Männer eine Rolle spielten. Die Sorge, als rassistisch oder befangen zu gelten, wenn sie gegen die nach außen unbescholtenen Familienväter mit Wurzeln in Pakistan vorgegangen wären, führte dazu, dass die Sozialarbeiter nicht genauer nachfragten.
Im jetzigen Fußball-Skandal steht unter anderem der Londoner Spitzenklub FC Chelsea im Fokus. Mehrere ehemalige Spieler haben angegeben, als Jugendliche vom mittlerweile verstorbenen Trainer und Talentsucher Eddie Heath sexuell missbraucht worden zu sein. Die meisten Fälle sollen sich während seiner Zeit bei Chelsea ereignet haben.
Besonders pikant ist: Der nach eigenen Angaben betroffene Ex-Fußballer Gary Johnson hat in einem Interview enthüllt, dass der Verein ihm im vergangenen Jahr eine Art Schweigegeld von 50000 britischen Pfund gezahlt hat. Nun hat er trotzdem ausgepackt. Daraufhin entschuldigte sich der Klub bei Johnson. Dieser habe in seiner Zeit als Jugendspieler in den 70er Jahren unzumutbar leiden müssen. Der Verein leitete, wie andere Vereine auch, eine Untersuchung ein.
Vor Bob Higgins, dem Jugendtrainer in Southampton, hat die englische Liga bereits Ende der 80er Jahre gewarnt. Daraufhin entließ ihn der Verein zwar, jedoch ohne offizielle Begründung. Er arbeitete viele weitere Jahre im Fußballgeschäft, obwohl er 1992 wegen sexueller Belästigung von Jungen vor Gericht stand, damals aber freigesprochen wurde. Herrschte seinerzeit eine Kultur der Toleranz? Des Verbergens? Oder wurden Hinweise einfach nicht ernst genommen?
Der Verband hat eine Richterin beauftragt, um herauszufinden, was die Klubs über Missbrauchsfälle in ihrem Zuständigkeitsbereich gewusst haben. Er glaube nicht an eine organisierte „Vertuschung“, sagt FA-Chef Martin Glenn, warnt aber: Jeder Klub, der sich etwas habe zuschulden kommen lassen, müsse „unabhängig von seiner Größe“mit Strafen rechnen.
Nach Andy Woodward brechen auch andere ehemalige Profis ihr Schweigen: Steve Walters von Crewe, David White von Manchester City, David Eatock, der bei Newcastle United unter Vertrag stand. Oder Paul Stewart. Der frühere Starspieler, im Einsatz unter anderem für den FC Liverpool, Manchester City und Tottenham Hotspur, ging mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit, um anderen Opfern Mut zu machen. Wann immer er zu Beginn von seinen Erfahrungen erzählte, klang seine Stimme brüchig, die Augen glänzten. Das Trauma hat der 52-Jährige bis heute nicht überwunden. Ab dem Alter von elf Jahren wurde er täglich von seinem Jugendtrainer missbraucht. Eine Profikarriere war der große Traum des kleinen Jungen. Sein Coach nutzte das schamlos aus.
Stewart befürchtet, dass das Ausmaß des Skandals noch größer, noch schlimmer sein könnte als jener um Jimmy Savile. Auch wegen der Umstände: „Der Zugang zu Kindern ist im Sport sehr einfach.“
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