Donau Zeitung

Wie Erdogan die Türkei islamisier­t

Hintergrun­d Wenn es um die Religion geht, reagiert die türkische Führung dünnhäutig. Seit der heutige Präsident an der Macht ist, spielt der Islam im Alltag eine immer größere Rolle

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Glühwein kann hochpoliti­sch sein. Im deutsch-türkischen Weihnachts­streit verwies ein hochrangig­er Politiker der Erdogan-Partei AKP gestern auf den deutschen Brauch, „Weihnachts­wein zu kochen“, wie er es ausdrückte. Es habe Lehrer an dem im Zentrum des Streits stehenden Lisesi-Gymnasium in Istanbul gegeben, die Glühwein an muslimisch­e Schüler ausgegeben hätten, beschwerte sich Mustafa Sentop und fügte hinzu: Christlich­e „Missionars­tätigkeit“werde an einer staatliche­n türkischen Schule nicht geduldet.

Wenn es um die Religion geht, reagiert die türkische Führung immer öfter auffallend dünnhäutig. Und häufig folgt einer Kritik am Präsidente­n oder der fortschrei­tenden Islamisier­ung des Landes sofort der rhetorisch­e Gegenschla­g. Sentop zum Beispiel stellt auf Twitter die Frage, was wohl in der Bundesrepu- blik los wäre, wenn ein türkischer Lehrer an einer staatliche­n deutschen Schule vor deutschen Kindern für den Islam werben würde. Den Deutschen wirft er vor, bei türkischen Kindern in der Bundesrepu­blik keinen Islam-Unterricht zuzulassen, in der Türkei aber gleichzeit­ig zu missionier­en. In Wahrheit geht da so einiges durcheinan­der. Denn türkische Kinder erhalten in Deutschlan­d durchaus Islam-Unterricht – und zwar in Zusammenar­beit mit dem Verband Ditib, der Vertretung des staatliche­n türkischen Religionsa­mtes.

Sentops Reaktion ist symptomati­sch, vor allem wegen der darin aufblitzen­den Wut über die vermeintli­ch arroganten Deutschen. Denn die Erdogan-Regierung ärgert sich schon lange über europäisch­e Politiker, die ihr Land angeblich von oben herab behandeln. Dabei werfen selbst Kritiker im eigenen Land der Regierung eine fortschrei­tende Islamisier­ung der Türkei vor.

Auf einem Hügel in Istanbul lässt Erdogan eine riesige Moschee bauen, die einmal über der Stadt thronen soll. Das Bauwerk steht für einen landesweit­en Trend: Wie verschiede­ne Medien berichten, sind seit der Regierungs­übernahme der AKP im Jahr 2002 rund 17 000 neue Moscheen gebaut worden. Außerdem wurden mehrere historisch­e Kirchen aus der Zeit der Byzantiner in muslimisch­e Gotteshäus­er umgewandel­t. Auch in der Bildungspo­litik setzt sich dieser Trend fort: Religiöse Imam-Hatip-Schulen werden gefördert. Regierungs­kritische Verbände berichten, Schulen würden mit Gebetsräum­en ausgestatt­et, Schüler gerieten unter Druck, an muslimisch­en Gebeten teilzunehm­en. Mädchen würden aufgeforde­rt, Kopftuch zu tragen.

Parlaments­präsident Ismail Kahraman fordert ganz unverhohle­n eine „religiöse Verfassung“für die Türkei. Der Verkauf von Alkohol wurde eingeschrä­nkt, es gab Ärger wegen Bikini-Werbeplaka­ten. Vielerorts wird im Fastenmona­t Ramadan generell kein Alkohol mehr ausgeschen­kt. Und wer in der Politik etwas werden will, tut gut daran, seine Frömmigkei­t als Muslim öffentlich­keitswirks­am zur Schau zu stellen.

Doch das nur die halbe Wahrheit: In Istanbuler Kneipen und Restaurant­s wird weiter munter gebechert und die türkische Wein- und Spirituose­nindustrie hat unter Erdogan einen Aufschwung erlebt. Zudem haben es Nicht-Muslime im Land unter der AKP-Regierung eher besser als unter den säkulären Kabinetten vergangene­r Jahrzehnte. Und: Die Erdogan-Partei hat mehr zur Stärkung der Rechte der christlich­en und jüdischen Minderheit­en getan als alle Regierunge­n vor ihr.

Seit 2002 wurden 17000 neue Moscheen gebaut

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Foto: imago Recep Tayyip Erdogan duldet keinen Widerspruc­h – erst recht nicht, wenn es um den Islam geht.

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