Donau Zeitung

Wenn Männer Kinder missbrauch­en

Interview Psychologe Reiner Kirchmann bietet in München ein preisgekrö­ntes Therapiean­gebot für Betroffene an, um minderjähr­ige Opfer vor Gewalt zu schützen

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Fast jeder 20. Mann hat pädophile Tendenzen. Das geht aus einer aktuellen Studie zum Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en hervor. Um Kinder zu schützen und Täter zu therapiere­n, leitet der Augsburger Psychother­apeut Reiner Kirchmann im Kinderschu­tzBund München in Zusammenar­beit mit dem Informatio­nszentrum für Männer mit „man/n sprich/t“ein spezielles Therapiean­gebot für Männer, Heranwachs­ende und Jugendlich­e, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begangen haben oder Kinderporn­ografie konsumiere­n.

Herr Kirchmann, wie ist es zu diesem Projekt gekommen? Reiner Kirchmann: Es entstand in den 90er Jahren im Deutschen Kinderschu­tzBund München. Wir fragten uns damals, wie man beim Aufkommen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch in der Familie am besten mit dieser Situation umgehen kann. Neu war, dass wir zum Schutz der Kinder die Verdächtig­ten mit dem Verdacht konfrontie­rten. Neu war auch, dass wir dann damit begannen, diese Männer zu therapiere­n. Es zeigte sich dabei, dass die Arbeit mit Tätern die wohl effektivst­e Methode ist, minderjähr­ige Opfer vor sexueller Gewalt zu schützen.

Wie hoch ist denn die Rückfallqu­ote nach Ende der Therapie? Kirchmann: Die liegt bei unter zehn Prozent. Das heißt, diese Arbeit zu machen ist eigentlich eine ethische Notwendigk­eit, sie nicht zu machen, wäre geradezu verantwort­ungslos.

Wer kann denn an einer solchen Therapie teilnehmen? Kirchmann: Vielleicht muss ich zuerst mal klarstelle­n, dass natürlich nicht alle Täter therapiert werden können. Psychopath­en, die Kinder vorsätzlic­h quälen wollen oder vollkommen kalt und gefühllos sind, können wir nicht aufnehmen. Voraussetz­ung ist, dass man einsieht, dass man Verbotenes tut und an dieser Situation etwas ändern will.

Wer kommt also und warum? Kirchmann: Es kann sein, dass das Umfeld Verdacht schöpft und dem Täter nahelegt, eine Therapie zu machen. Es kann sein, dass eine Auflage vom Gericht vorliegt. Und natürlich können sich auch Männer aus freien Stücken an uns wenden. Verändert hat sich dabei, dass immer mehr Männer unsere Hilfe in Anspruch nehmen, die Kinderporn­ografie konsumiere­n oder Chats mit Kindern suchen. In den Gruppen sind sie inzwischen in der Überzahl gegenüber den Tätern, die im Laufe ihrer Beziehung zu einem Kind zu Berührunge­n oder sexuellen Handlungen übergehen.

Was ist besonders an Ihrem Projekt? Kirchmann: Im Kern unserer Maßnahmen steht eine mehr als zweijährig­e Gruppenthe­rapie. Wir verstehen Therapie dabei als eine Ver- auf Zeit, um vorgegeben­e Dinge zu lernen und Zeit für die persönlich­e Entwicklun­g zu geben.

Wie darf man sich das vorstellen, wenn ich mal dazwischen fragen darf? Kirchmann: Nun, die Gruppentei­lnehmer müssen lernen, Verantwort­ung für ihre Taten zu übernehmen. Denn oftmals rücken sie ihre Vergehen aus Selbstschu­tz in ein romantisch­es Licht. Dazu werden die Taten in der Gruppe bis ins kleinste Detail besprochen. Zweitens lernen die Männer, sich in das Erleben ihrer Opfer einzufühle­n. Wer sich einfühlen kann, wem klar geworden ist, was er dem Kind antut, wird nicht mehr so schnell rückfällig.

Jeder denkt, das sollte man doch vorher wissen. Kirchmann: Ja schon, aber diese Männer haben es bisher oft erfolgreic­h geschafft, die Realität zu verdrängen, um sich als gute Menschen fühlen zu können. Sie waschen ihre Hände gern in Unschuld und sehen den Anlass für den Missbrauch bei den Kindern. Und außerdem müssen die Täter lernen, sich selbst zu verstehen und zu verstehen, warum sie das gemacht haben.

Wichtiger Aspekt, oder? Kirchmann: Ja. Und jetzt sagen Sie vielleicht: Ist doch klar, weil sie pädophil sind! Sollte man denken, ja. Aber paradoxerw­eise werden die meisten Kinder eben nicht von pädophilen Tätern missbrauch­t. Pädophile Täter müssen lernen, ihre Neigung zu akzeptiere­n und einen straffreie­n Weg für ihre Sexualität zu finden. Die anderen Täter missbrauch­en oft in einer Lebenskris­e, wenn sie sich minderwert­ig fühlen. Sie müssen lernen, mit schlechten Gefühlen besser umgehen zu können.

Und wie lernen sie das? Kirchmann: Wir bieten Hilfen aus einer Hand an. Das bedeutet, dass wir, wie eingangs formuliert, Hilfen für die ganze Familie in der Beratungss­telle des Deutschen Kinderschu­tzpflichtu­ng Bundes München, dem Kinderschu­tzZentrum anbieten. Das bedeutet Klärungsge­spräche für die Erwachsene­n und Therapie für die betroffene­n Kinder. Wenn Bewährungs­helfer mit dabei sind, arbeiten wir auch mit ihnen zusammen. Und: Die Therapie hört übrigens nicht nach zweieinhal­b Jahren auf, weil wir wissen, dass die Rückfallwa­hrscheinli­chkeit nach einem oder zwei Jahren am höchsten ist.

Warum ist das so? Kirchmann: Weil sich die Betroffene­n nicht mehr so aufgefange­n wie in der intensiven Zeit der Therapie fühlen. Dann steigt die Gefahr für einen Rückfall. Wir sind deshalb fünf weitere Jahre verpflicht­end in Kontakt.

Gibt es Gründe, warum Männer missbrauch­en? Sind viele von ihnen selbst in der Kindheit missbrauch­t worden? Kirchmann: Natürlich gibt es Gründe, ohne dass diese die Taten rechtferti­gen würden. Sie haben zumeist auch Gewalt und Vernachläs­sigung in ihrer Kindheit erlebt. Das muss keine sexuelle Gewalt gewesen sein, das kommt gar nicht so häufig vor. Man könnte sagen, sie sind selber in ihrem Leben oft wie Objekte behandelt worden und behandeln nun die Kinder wie Objekte – nur eben mit dieser sexuellen Gewalt.

Sie schreiben, dass 20 Prozent aller Missbrauch­sfälle von Jugendlich­en begangen werden. Kirchmann: Ja, das ist eine überrasche­nd hohe Zahl. Es ist aber auch grundsätzl­ich so, dass man in der Jugend oft etwas macht, was man als Erwachsene­r nicht wieder machen würde. Zudem fällt der Geschwiste­rinzest ja genau in diese Zeit. Wir versuchen dem gerecht zu werden, indem wir Gruppen für Jugendlich­e anbieten. Meine Kollegen bauen auch gerade ein Projekt für minderjähr­ige Flüchtling­e auf. Damit wollen sie verhindern, dass sexuelle Belästigun­gen aufgrund von Missverstä­ndnissen entstehen, die kulturell bedingt sind.

Wie merkt einer denn, dass er pädophile Neigungen hat? Kirchmann: Wie gesagt, es gibt mehrere Typen. Pädophile Neigungen merkt man an seinen sexuellen Fantasien oder daran, dass man auf eine bestimmte Altersgrup­pe „steht“.

Und wer ist noch gefährdet? Kirchmann: Auch Männer, die in einer Lebenskris­e emotional hungriger und sehnsuchts­voller werden und diese Sehnsucht auf ein Kind in der Nähe, zum Beispiel die eigene Tochter, richten. Das ist ein Alarmsigna­l. Dann sollte man zum Telefon greifen und sich Hilfe suchen, bevor man zum Beispiel der Tochter zu nahe kommt. Interview: Josef Karg

Dipl. Psych. Univ. Reiner Kirch mann arbeitet neben dem Projekt „man/n sprich/t“als Kinder und Ju gendtherap­eut in Augsburg.

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Foto: Alexander Kaya Die Arbeit mit Tätern ist wohl die effektivst­e Methode, minderjähr­ige Opfer vor se xueller Gewalt zu schützen, sagt Reiner Kirchmann.

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