Luigi Malerba – Die nackten Masken (69)
Statt dessen strömte eine Wolke schwüler Luft herein, und vor seinen Augen erschienen die grauen Umrisse der Häuser vor einem finsteren und kompakten Himmel, da und dort durch die Feuchtigkeit des Flusses verschleiert. Vor diesem Szenarium erschien vor seinen Augen plötzlich ein flatternder Purpurmantel am Himmel, und auf dem Mantel ein großer Blutfleck.
Der Diakon starrte auf dieses Bild: welches war der Unterschied zwischen dem Rot des Blutes und dem des Purpurs? Das Blut ist eine Spur dunkler, neigt zur Rostfarbe, während der Purpur ein ganz und gar leuchtendes Rot ist
. Dieser Blutfleck auf dem Kardinalspurpur zeigte sich vor seinen Augen mit allen Variationen, die seine Phantasie ihm eingab, und es gelang schließlich erst dem Schlaf und der Müdigkeit, die beiden Farben, die sich ohne Unterlaß übereinanderschoben und vermischten, wieder zu löschen.
Während er im Begriff war einzuschlafen, den Kopf voller Fragezeichen, kam ihm der verrückte Anspruch jenes unbekannten Schreibers in den Sinn, der behauptete, den Beweis des Absoluten zu besitzen.
Wie relativ ist doch alles in dieser Welt, dachte der Diakon Baldassare, nicht nur die Farben des Purpurs und des Bluts, sondern sogar das Verhalten Gottes, der seinen Schutz und sein Wohlwollen nach unerforschlichen Ratschlüssen oder Zufällen verteilt. Wie weise hatte jene Ratte gehandelt, als sie das anonyme und absurde Pergament zernagte!
Zwei Ohren und nur eine Zunge
Am Abend des zweiten Tags nach seiner bewegten Ankunft im Haus des Kardinals Ottoboni schlief Severo gerade oder träumte von irgendeiner finsteren Gaunerei, als ein Bediensteter seine Kammer im Erdgeschoß betrat, um ihn zu wecken und ihm zu sagen, daß er in ein neu- es Quartier umziehen müsse. Severo fiel aus allen Wolken. „Jagt ihr mich weg?“Der Bedienstete beruhigte ihn und sagte, daß der Umzug auf Weisung des Kammerherrn geplant und vorbereitet worden sei. Severo schlüpfte in seine Schuhe, aber er mußte sich nicht anziehen, weil er aus alter Gewohnheit in allen Kleidern schlief. Der Dienstbote ließ ihn auf einen Karren steigen, der von einem schwarzen Maultier gezogen wurde, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Borgo. Der ohnehin wortkarge Bedienstete konnte oder wollte keine Erklärung für diesen Umzug geben. Severo war bereits zu Ohren gekommen, daß er einen Auftrag bekommen sollte, aber er wußte noch nichts davon, daß man ihn in ein Refugium umquartieren würde, von wo aus er am folgenden Sonntag vor Morgengrauen aufbrechen und wo er sich nach vollendeter Mission verstecken sollte.
„Du hast wohl gedacht, du bist bei uns in Pension?“
„Das wäre recht bequem gewesen.“
„Ich weiß von nichts, aber für das Haus des Kardinals bist du vielleicht ein unbequemer Gast.“
Der Zweiradkarren überquerte den Circus Agonalis, der noch mit den Resten des Markts übersät war – Körbe ohne Boden, Haufen von Kohlstrünken und verfaultes Obst – dann fuhr er durch die völlig menschenleere Via Tor Sanguigna bis zum Tiber, überquerte rasch die Engelsbrücke in Richtung Borgo, wo er vor einer gänzlich mit Nägeln beschlagenen Haustür im Bleigäßchen hielt. Der Bedienstete ließ Severo absteigen und führte ihn in eine kleine Behausung, zwei nebeneinander liegende Kammern im Erdgeschoß, notdürftig möbliert, mit zwei kleinen Fenstern zur Straße und einem Brunnen an einer Wölbung der Wand neben der Feuerstelle in der Küche. Beim Abladen eines Sacks mit Vorräten ließ er sich von Severo helfen und schickte sich an, ihn beim Licht einer Kerze zurückzulassen. „Und was soll ich jetzt tun?“„Nebenan ist ein Bett, du kannst dich in Frieden wieder schlafen legen.“„Und dann?“„Später kommt der Kammerherr und lehrt dich ein wenig Latein.“
Der Dienstbote ging hinaus, um wieder auf den Karren zu steigen, aber Severo rief ihn noch einmal zurück.
„Und der Hausschlüssel? Ist das hier ein Gefängnis?“
„Den gibt dir der Kammerherr. Vorläufig brauchst du keinen.“
Der Bedienstete verschloß die Tür von außen und fuhr auf dem Karren davon. Am selben Abend hielt vor dem kleinen Tor von Severos neuer Wohnung im Bleigäßchen eine Dienstkutsche ohne Wappen, und ihr entstieg der Kammerherr des Kardinals Ottoboni. Der bejahrte Prälat schlüpfte mit gesenktem Kopf behende ins Haus, als fürchte er, von indiskreten Augen gesehen zu werden.
„Monsignore“, sagte Severo gleich, „Ihr müßt mir sagen, was ich hier soll. Ich bin etwas schwer von Begriff, Monsignore.“
„Gefällt es dir nicht? Es ist eine Wohnung zu deiner Verfügung, mit den nötigen Bequemlichkeiten. Hier ist der Schlüssel.“
„Für einen Tag, eine Woche, einen Monat? Laßt mich was wissen über mein Schicksal, beim Heiligen Christkind!“
„Für ein Jahr. Du kannst ein Jahr lang hier wohnen, geschützt vor Sonne und Regen. Ist dir das recht? Gefällt dir diese Wohnung?“
„Ob sie mir gefällt? Und wie! Es ist eine hochherrschaftliche Wohnung für einen Verbrecher wie mich.“
Severo deutete auf die Bank vor dem Kamin. Dann nahm er einen Unterrock und zwei beinerne Haarnadeln von einem kleinen Sessel und zeigte sie dem Monsignore.
„Hier ist eine Frau gewesen, und zwar eine junge, wenn Ihr Euch mal die Maße anseht, und nicht schlecht geformt.
Was wollt Ihr mir da bieten – ein Haus mit einer Frau drin? Wie soll ich das verstehen?“
Der Kammerherr lächelte amüsiert. Dann sah er Severo eindringlich an.
„Du weißt sicher auch, daß viele Huren lieber hier im Borgo wohnen als im Ortaccio. Hier sind sie näher bei den Pilgern, bei der vatikanischen Priesterschaft und bei denen, die von auswärts kommen und ein Bett zum Übernachten brauchen. Für ein Bett, das ihnen von einer Hure angeboten wird, zahlen die Pilger und die auswärtigen Priester bereitwilliger als für ein leeres Bett. Deshalb ist es möglich, daß dieses Haus an eine von diesen Frauen vermietet war die alle auch ganz kopflos sind wegen der Ankunft des neuen Papstes. Da hast du die Erklärung für das Kleidungsstück.
„Ihr habt mich auf komische Gedanken gebracht, Monsignore.“
„Ich kann dich verstehen, jeder hat seine Wünsche, aber man muß lernen, sie für gute Gelegenheiten aufzubewahren, und die kommen nicht alle Tage.“„Und Ihr macht es so?“„Ich mache es so.“ »70. Fortsetzung folgt