Na, Jungs, wer kennt Winnetou?
Lesen Vor 105 Jahren starb der große Schriftsteller Karl May. Doch seine Abenteuer faszinieren Schüler nicht mehr
Landkreis Heute vor 105 Jahren starb der große Schriftsteller Karl May. Der Schöpfer von unterschiedlichsten Kämpferhelden in vielen Teilen der Erde, die er tatsächlich kaum selbst zu Gesicht bekommen hatte, brachte es mit seinen rund 100 Werken auf eine mehr als 200-Millionen-Auflage in fast fünf Dutzend Sprachen. Auch die humane Tendenz seiner Bücher und ihr Einsatz für unterdrückte Völker wie Indianer oder Kurden sicherten sich lange Zeit das Interesse ungezählter Leser. Doch im „Wilden Westen“Bayerns, zwischen Syrgenstein und Buttenwiesen scheint das vorbei zu sein.
Zumindest in den Verkaufsregalen von Buchhandlungen und anderen Stellen der Region. Dort führen die unvergesslichen Helden von Winnetou & Old Sure- wie Shatterhand bis Hadschi Halef Omar und Apanatschi einen einsamen, eher aussichtslosen Kampf um Nachfrage. Während sich der berühmte Romancier Martin Walser kürzlich zu seinem 90. Geburtstag als absoluter May-Fan outete, dessen Geschichten er „unter der Bettdecke mit der Taschenlampe“gelesen habe, scheinen die nordschwäbischen Leseratten den Stoff aus Nordamerika und Asien wohl eher zum Gähnen zu finden. „Karl May? Eine seltene Angelegenheit“, heißt es bei Bücher Brenner in der Königstraße von Dillingen zur Friedhofs-Ruhe bei den Prärie-Romanen, die so viele Generationen in ihren Bann ziehen konnten und auch als wertvolle Vorlage für Filmdrehbücher gedient hatten.
Apropos: Die dortige Buchhändlerin Julia Hank erinnert sich einzig an ein paar Buchwünsche von „Leuten im Alter von 60 plus“, die wegen der von einem Privatsender neuverfilmten Großtaten des (fast) ewigen Häuptlings der Apachen Ende des vergangenen Jahres in den Laden eilten.
Das Kriegsbeil für einen zähen Konkurrenzkampf im regionalen Buchhandel würde auch Inhaberin Christine Gerblinger vom gleichnamigen Geschäft in Wertingen kaum ausgraben wollen. „Für Werke von Karl May interessieren sich übers Jahr gesehen vielleicht ein bis zwei Besucher.“Allerdings reizt es die erfahrene Buchexpertin bei diesem Thema, auch mal literarisch scharfzüngig zu urteilen: „Für heutige junge Leser nicht ganz einfach zu lesen, außerdem viel zu viel Kleingedrucktes“, schießt sie in Richtung des großen Erzählers, dessen gehobene Position in der deutschen Lite- raturgeschichte sie keineswegs in Frage stellen möchte. „Nur geübten Viellesern mag das ein guter Stoff sein.“Helga Bitto-Roth vom „Rothstift“musste in Buttenwiesen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten kein einziges KarlMay-Buch anfordern. Und die Leiterin der Stadtbücherei Dillingen, Brigitte Schöllhorn, könnte sich vorstellen, Bände wie „Der Schatz im Silbersee“mangels Nachfrage bald auszusortieren.
Doch selbst die eher männeraffinen Alltagsschilderungen aus Schluchten, Wüsten oder Hochebenen, angereichert mit Grobheiten von einem Schuft wie Rollins, konnten in den vergangenen Jahren kaum verhindern, dass Lesen bisweilen als reine Frauensache galt. So blieben nach mehreren Bildungs-Studien die Erkenntnis, dass „Jungen viel weniger lesen als Mädchen“und Untersuchungsergebnisse, wonach 80 Prozent der Schüler mit Lese- Rechtschreib-Schwäche männlicher Art seien. Mädchen lesen gerne, Buben können mit Büchern weniger anfangen – ein Stereotyp, das eine statistische Grundlage vorzuweisen hat: In fast allen Ländern , die an einer der jüngsten Pisa-Erhebungen teilnahmen, lasen 15-jährige Mädchen besser und verstanden Sprache schneller als gleichaltrige Buben. Wissenschaftler warnen allerdings davor, daraus falsche Schlüsse zu ziehen. „Auch Mädchen können Lesemuffel sein“, weiß Geschäftsfrau Christine Gerblinger, die mit den örtlichen Schulen in engem Kontakt steht. Etwa bei Lesewettbewerben, die „selbstverständlich auch von Buben gewonnen werden.“Beim männlichen Interesse für Beschriebenes registriert sie eine spürbare Zunahme. Erfreut hatte schon vor zwei Jahren der Börsenverein des deutschen Buchhandels vermeldet, dass „die Jungs das Buch entdecken“. Bei der Buch-Nutzung von Kindern sei der Anteil der Buben zwischen sechs und 13 Jahren, die jeden oder fast jeden Tag ein Buch zur Hand nähmen, von sieben auf zwölf Prozent gestiegen.
Damit es gar nicht erst so weit kommt, dass sich die Burschen statt um Literatur mehr um Skateboard und Fußball kümmern, müssten nach Ansicht der Dillinger Buchhändlerin Julia Hank die Erwachsenen eine wegweisende Rolle spielen: „Man sollte das Lesen vorleben.“Das müsse durch eine „prägende Person“geschehen, die neben den Eltern etwa auch bei der Großmutter gefunden werden könne. Das wirke sich zu mehr als 50 Prozent auf das künftige Leseverhalten aus, unterstreicht Bibliothekschefin Brigitte Schöllhorn. Sie ermuntert daher die Vatis, den männlichen Nachwuchs mal in die örtliche Bibliothek zu begleiten und gemeinsam ein Buch herauszusuchen. „Mit Mama wäre das nämlich ein NoGo!“Ihre Institution sieht sie nicht nur als eine Aneinanderreihung von Bücherregalen, sondern auch lebendigen Ort zum Treffen und Schmökern. Damit die Buben sich verstärkt mit Literatur befassen, sieht Julia Hank außerdem die Verlage in der Pflicht. Etwa das zu drucken, was die vermeintlichen Bücherverweigerer mehr mitreißen könne. Zum Beispiel das im Comicstil gehaltene „Gregs Tagebuch“(Bauhaus-Verlag). Oder „Teslas unvorstellbar geniales und verblüffend katastrophales Vermächtnis“(Loewe). Christine Gerblinger schwört auf die „Mississippi-Bande (ThienemannEsslinger), die sie an Mark Twains „Huckleberry Finn“erinnern.
Die Missisissipi Bande ist heute so beliebt wie einst Huckleberry Finn