Paul Auster: Die Brooklyn Revue (1)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ch ließ mir im Park Slope Barbershop an der Seventh Avenue die nachgewachsenen Haare schneiden, lieh mir Videos im Movie Heaven und sah mich häufig in Brightman’s Attic um, einem voll gestopften, schlecht organisierten Antiquariat, das einem schillernden Homosexuellen namens Harry Brightman gehörte (mehr über ihn später). Das Frühstück machte ich mir meistens selbst in meiner Wohnung, aber da ich ungern koche und auch gar kein Talent dafür habe, aß ich mittags und abends in Restaurants - immer allein, immer mit einem aufgeschlagenen Buch vor mir, immer mit großem Bedacht kauend, um die Mahlzeit so lange wie möglich hinzuziehen. Nachdem ich einige Alternativen in der Nähe ausprobiert hatte, wählte ich den Cosmic Diner zu meinem Stammlokal. Das Essen dort war bestenfalls mittelmäßig, aber es gab eine entzückende Kellnerin, eine Puertoricanerin namens Marina, in die ich mich sofort verknallt hatte. Sie war halb so alt wie ich und schon verheiratet, weshalb eine Affäre mit ihr für mich nicht in Frage kam, aber sie war so herrlich anzuschauen, so freundlich im Umgang mit mir, und sie lachte so bereitwillig über meine nicht sehr komischen Witze, dass ich mich an ihren freien Tagen buchstäblich nach ihr verzehrte. Streng anthropologisch betrachtet, stellte ich fest, dass Brooklyner weniger abgeneigt sind, mit Fremden zu sprechen, als jedes andere Völkchen, dem ich je begegnet war. Sie mischen sich nach Belieben in anderer Leute Angelegenheiten ein (alte Frauen, die junge Mütter schelten, weil sie ihre Kinder nicht warm genug anziehen; Passanten, die Hundebesitzer anschnauzen, weil sie zu fest an der Leine zerren); sie zanken sich wie geistesgestörte Vierjährige um einen Parkplatz; sie verblüffen einen aus heiterem Himmel mit geistreichen Sprüchen. Eines Sonntagmorgens betrat ich ein überfülltes Deli mit dem absurden Namen La Bagel Delight. Ich wollte einen Zimt-Rosinen-Bagel verlangen, aber die Zunge gehorchte mir nicht, und es kam etwas heraus wie Zimt-Reagan. Postwendend erwiderte der junge Mann hinter der Theke: „Tut mir Leid, die führen wir nicht. Wie wär’s stattdessen mit einem Pumpernixon?“Fix. So verdammt fix, ich hätte mir fast in die Hose gemacht. Nach diesem unabsichtlichen Versprecher kam ich schließlich auf eine Idee, die Rachel gutgeheißen hätte.
Nun, vielleicht war es nicht direkt eine Idee, aber es war doch immerhin etwas, und wenn ich so rigoros und gewissenhaft daran festhielt, wie es meine Absicht war, dann hatte ich mein Projekt, das kleine Steckenpferd, nach dem ich gesucht hatte und das mich aus der Trägheit meines einschläfernden Tagesablaufs heraustragen sollte. Mein Projekt war bescheiden, aber ich taufte es auf einen hochtrabenden, etwas pompösen Namen – um in mir die Illusion zu wecken, dass ich mit einer wichtigen Arbeit beschäftigt sei. Ich nannte es Das Buch menschlicher Torheiten, und ich wollte darin in möglichst einfacher und klarer Sprache jeden Fehler festhalten, jede Blamage, jede Peinlichkeit, jede Idiotie, jede Schwäche und jede Albernheit, die ich im Lauf meiner langen, buntscheckigen Karriere als Mann begangen hatte. Wenn mir keine Geschichten mehr von mir selber einfielen, wollte ich Dinge aufschreiben, die Bekannten von mir passiert waren, und wenn auch dort nichts mehr zu holen wäre, wollte ich mich historischen Ereignissen zuwenden und die Torheiten meiner Mitmenschen durch sämtliche Zeitalter hindurch aufzeichnen, angefangen bei den untergegangenen Zivilisationen der Antike bis zu den ersten Monaten des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Wenn es auch sonst nichts taugt, dachte ich, habe ich wenigstens etwas zu lachen. Es ging mir nicht darum, meine Seele bloßzulegen oder mich in düsterer Selbstbetrachtung zu ergehen. Mir schwebte ein durchweg leichter, possenhafter Tonfall vor, und Zweck des Ganzen war allein, mich zu unterhalten und mir damit so viele Stunden des Tages wie möglich zu vertreiben.
Ich nannte das Projekt ein Buch, tatsächlich aber konnte von einem Buch keine Rede sein. Ich schrieb auf Notizblöcke, auf lose Zettel, auf die Rückseiten von Briefumschlägen und Reklamebriefen für Kreditkarten und Hausrenovierungsdarlehen; ich trug eine ganze Kollektion von einzelnen Notaten zusammen, ein Sammelsurium unverbundener Anekdoten, die ich, sobald eine fertig war, in eine Pappschachtel warf. Mein Wahnsinn hatte wenig Methode. Manche dieser Notate waren nur ein paar Zeilen lang, und einige, vor allem die Schüttelreime und Wortverdrehungen, die ich so gern hatte, bestanden nur aus einem einzigen Satz. Oko-Scheiß statt Schoko-Eis, zum Beispiel, was mir als Kind manchmal herausgerutscht war, oder die unbeabsichtigt tiefsinnige, gleichsam mystische Bemerkung, die ich bei einem bösen Streit mit Edith einmal fallen ließ: Das seh ich erst, wenn ich’s glaube. Wenn ich mich zum Schreiben hinsetzte, schloss ich zunächst die Augen und ließ meine Gedanken einfach nach Belieben schweifen. Auf diese Weise gezwungen, mich zu entspannen, gelang es mir, ziemlich viel Material aus der fernen Vergangenheit auszugraben, Dinge, von denen ich bis dahin angenommen hatte, sie seien für immer verloren. Ein Augenblick (um einmal eine solche Erinnerung zu zitieren) aus dem sechsten Schuljahr, als ein Junge aus unserer Klasse, Dudley Franklin hieß er, mitten in der Geographiestunde in einer plötzlich eingetretenen Stille einen lang gezogenen, trompetenschrillen Furz fahren ließ. Natürlich lachten wir alle (nichts ist für ein Klassenzimmer voller Elfjähriger komischer als ein lautstark abgelassener Darmwind), aber was diesen Vorfall von anderen kleinen Peinlichkeiten unterschied und zum Klassiker machte, zu einem bleibenden Meisterwerk in den Annalen der Schande und Demütigung, war der Umstand, dass Dudley in seiner Naivität den fatalen Fehler beging, sich zu entschuldigen. „Verzeihung“, sagte er, senkte den Blick auf sein Pult und errötete, bis seine Wangen mit
einem frisch lackierten Feuerwehrwagen konkurrieren konnten. Einen Furz darf man niemals eingestehen. So lautet das ungeschriebene Gesetz, die strengste protokollarische Vorschrift der amerikanischen Etikette. Fürze kommen von niemandem und nirgendwo; es sind anonyme Emanationen, die einer Gruppe als Ganzes gehören, und selbst wenn jeder im Raum auf den Schuldigen zeigen kann, ist das Dementi die einzig vernünftige Verhaltensweise. Der unbedarfte Dudley Franklin war dafür jedoch zu aufrichtig, und das ist er nie mehr losgeworden. Von diesem Tag an war er der Verzeihung-Franklin, und diesen Spitznamen trug er bis ans Ende der High School.
Die Geschichten schienen in mehrere verschiedene Rubriken zu gehören, und nachdem ich etwa einen Monat lang an dem Projekt gearbeitet hatte, gab ich mein aus einer einzigen Schachtel bestehendes Ordnungssystem auf und benutzte fortan mehrere Schachteln, in denen ich meine fertigen Texte nach Themen sortieren konnte. »2. Fortsetzung folgt