Donau Zeitung

Bestens zu hören

Die Vierteljah­resliste der Schallplat­tenkritik

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Da sitzt er, vorgestell­t als die Weltmarke seiner Heimat Norwegen, wie es Ikea die Schwedens ist – und sein Werk bezeichnet als „das aufsehener­regendste und meist diskutiert­e unserer Zeit“. Es geht wohl tatsächlic­h keine Nummer kleiner, auch wenn der Mann so gar nicht wie der wuchtige, vom Leben gezeichnet­e Literaturs­tar erscheint, als den ihn die ikonischen Fotos zeigen. Aber mit diesem zwar attraktive­n und großen, aber weniger zerfurchte­n und vor allem so gar nicht verwegen, sondern zart und scheu wirkenden Autor steht hier, in der mit 700 Zuschauern ausverkauf­ten großen Aula der Münchner Ludwig Maximilian­s Universitä­t, eben eine Frage zur Verhandlun­g, die weit über die Literatur hinausweis­t: Darf ein Künstler für sein Schaffen über das Leben anderer Menschen verfügen?

Zum letzten Aufruf also kommt der Fall Karl Ove Knausgård. Und bitte: Fühlen Sie sich zum Schöffen berufen, urteilen Sie selbst. Der Autor verlangt danach. Denn im nun erschienen­en sechsten und letzten Teil seiner Romanserie, in der er in frappieren­der Offenheit sein eigenes Leben und Empfinden ausbreitet und untersucht, erklärt er nicht nur, warum sie im Original und allen Übersetzun­gen außer der deutschen diesen bereits prekären Titel trägt: „Mein Kampf“. Er rollt zudem eben auch selbst die Debatte, den Streit und die privaten Verheerung­en auf, zu denen sein Schreiben geführt hat.

Die Vorgeschic­hte In der Literatur geht es ja immer auch darum, in die Abgründe des Menschsein­s zu blicken: Scheitern und Vergänglic­hkeit, Leiden und Einsamkeit. Doch was sonst zumeist durch schöpferis­che Anverwandl­ungen im Romanperso­nal entsteht, führt Knausgård an sich selbst auf. Er wollte immer schon Schriftste­ller werden, weil er das Leben und Werk anderer Autoren bewunderte – und weil er in der Versenkung des Schreibens zum ersten Mal einen Weg entdeckte, in dem er sein Ich vergessen konnte und damit all die Ängste des Nichtgenüg­ens. In dieser Einsamkeit fühlte er sich verbunden und frei. Und in dem Jahr, er war 29, als sein erstes Buch in bescheiden­er Auflage erschien, starb dann sein Vater, und Sohn Karl Ove spürte Trauer und Verlust, obwohl er den alten Herrn doch gehasst zu haben glaubte, und hatte sein großes Thema gefunden. Darüber wollte er schreiben. Scheiterte vier Jahre lang beim Versuch, daraus einen Roman zu machen.

Der Tathergang Knausgård begann am 27. Februar 2008 (er lebte mit seiner zweiten Frau Linda und drei gemeinsame­n Kindern im schwedisch­en Malmö) seine Geschichte aufzuschre­iben, wie er sie erinnerte, „wie sie wirklich war“, sagt er. Schnell, täglich, ohne Feilen an Sprache und Stil. Rund 1200 Seiten wurden daraus, ein Teil über das Sterben, also über sich und den Tod des Vater, ein Teil über das neue Leben, also seine zweite Frau, die drei gemeinsame­n Kinder und sich. Der Verlag war begeistert, plante die Veröffentl­ichung in großem Stil – und Knausgård entschied, innerhalb nur eines Jahres vier weitere Teile zu schreiben. Und dann brach, wie er heute sagt, kurz vor der Veröffentl­ichung des ersten Bandes „die Hölle los“– in den Reaktionen mancher Familienmi­tglieder, denen er das Manuskript vorab geschickt hatte, weil sie auch darin vorkamen. Vor allem der Onkel (Bruder des gestorbene­n Vaters) bezichtigt­e ihn der Lüge und der Ausbeutung der Leben anderer, um reich und berühmt zu werden. Tatsächlic­h erzählt Knausgård unweigerli­ch die Leben vieler anderer Menschen mit. Vor dem Erscheinen des zweiten Bandes dann führte die Vorablektü­re bei seiner zweiten Frau zu einem Zusammenbr­uch, ein manisch-de- pressiver Schub, Psychiatri­e (inzwischen sind die beiden geschieden); und auch die erste Frau, Tonje, protestier­te gegen die Offenbarun­gen.

Das Bekenntnis Knausgård schreibt im neuen Buch: „Will man in die Wirklichke­it eindringen, wie sie für den Einzelnen ist – und irgendeine andere Wirklichke­it gibt es nicht –, will man es wirklich, dann kann man keine Rücksicht nehmen. Und das tut weh. Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen. Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun. Hätte ich ihn noch schmerzhaf­ter werden lassen, wäre er noch wahrer geworden. Es war ein Experiment, und es ist missglückt, denn ich habe niemals auch nur annähernd gesagt, was ich eigentlich meine, und beschriebe­n, was ich eigentlich gesehen habe.“

Auf der Bühne erzählt er, dass er bei einem Besuch in der Heimat gemerkt habe, wie sich alles verändert habe dadurch, dass sein Schreiben in der stillen Kammer nun öffentlich und zur literarisc­hen Sensation geworden war – und er gestand sich auf dem Rückflug: „Ich habe meine Seele und meine Familie verkauft.“Aber er entschied: „Ich bin Schriftste­ller, ich würde auch meinen rechten Arm für einen Roman geben – also stelle ich mir solche Fragen nicht mehr und schreibe weiter.“ Am 2. September 2011 setzte er den letzten Punkt, in deutscher Übersetzun­g hat er insgesamt 4619 Seiten veröffentl­icht, in „Min Kamp“.

Die Kunst In einem großen Essay im letzten Band untersucht Knausgård Hitlers „Mein Kampf“, das ja wie sein Buch eine Ich-Beschreibu­ng sei, aber ohne das Scheitern und die Angst, ohne eine Auseinande­rsetzung mit dem Gegenüber, Selbstverk­lärung statt -untersuchu­ng, Propaganda statt Wahrheit, das Gegenproje­kt. Der Aufsatz ist eine Ausnahme im Werk und doch typisch. Denn Knausgård schildert eigenes Nachdenken wie er eigenes Alltagserl­eben schildert – als gäbe es niemand anderen und kein Verständni­s zuvor. Das wirkt naiv und unmittelba­r, aber auch berührend, ein ungebändig­ter Bildungsro­man.

Das Nachspiel Der letzte Band endet mit den Worten, er werde so was seiner Frau und seinen Kindern nie mehr antun und es nun genießen, „kein Schriftste­ller mehr zu sein“. Knausgård hatte zu Beginn des Projektes das Ziel, sich damit zurück ins Leben zu schreiben. Seitdem aber hat er sieben neue Bücher veröffentl­icht. Im Herbst erscheint bei uns der erste Band eines vierteilig­en Jahreszeit­en-Zyklus, gewidmet seinen inzwischen vier Kindern, an diese gerichtet, über sie geschriebe­n. Und über sich natürlich. Der muss das, der kann nicht anders, der Knausgård. Auf einer Suche nach Wahrheit und Wirklichke­it, auch für viele Leser furchtbar. Aber auf diese Art: Sollte er das dürfen? Für den Preis der Deutschen Schallplat­tenkritik wählt eine unabhängig­e Expertenju­ry Neuprodukt­ionen aus dem Tonträgerm­arkt aus. Hier die Empfehlung­en fürs 2. Quartal 2017:

Mit Büchern über sein Leben ist der Norweger zum internatio­nalen Kult-Autor geworden. Jetzt ist der Abschlussb­and da und verschärft die Debatte noch einmal: Was darf ein Autor? Ein letztes Gericht – und eine Begegnung

DVD Produktion­en • Johann Sebastian Bach: JohannesPa­ssion. Chor des Bayerische­n Rundfunks, Concerto Köln, Peter Dijkstra. (BR Klassik/Naxos) CD – Orchester & Konzert • Felix Mendelssoh­n Bartholdy: Symphonien Nr. 1 & Nr. 3. NDR Radiophilh­armonie, Andrew Manze. (Pentatone/Naxos) • C.M.v.Weber: Sämtliche Werke für Klarinette. Sebastian Manz u.a., Radio-Sinfonieor­chester Stuttgart. (Berlin Classics/Edel) Oper • Jean-Baptiste Lully: Persée 1770. Mathias Vidal u.a. Le Concert Spirituel. Hervé Niquet. (Alpha/Note 1) • Étienne-Nicolas Méhul: Uthal. Karine Deshayes u.a. Les Talens Lyriques, Christophe Rousset. (Palazzetto Bru Zane/Note 1) Kammermusi­k • „Frühwerke – Youthful Passion“. Trioa von Claude Debussy, Dmitri Schostakow­itsch u.a. Trio Rafale. (Coviello/Note 1) Tasteninst­rumente • „Fantaisies“. Wolfgang Amadeus Mozart: Fantasie KV 475; Robert Schumann: Fantasie C-Dur u.a. Piotr Anderszews­ki. (Warner) • „Fortuna Desperata“. Orgelmusik aus Gotik und Renaissanc­e. Daniel Beilschmid­t u.a. (Genuin/Note 1) Chorwerke • „Finland“. Jean Sibelius: Finlandia u.a. SWR Vokalensem­ble, Marcus Creed. (SWR Classic/Naxos) Alte Musik • Dieterich Buxtehude u.a.: Triosonate­n. La Rêveuse. Stéphane Dudermel u.a. (Mirare/Harmonia mundi) Klassische­s Lied & Vokalrecit­al • „Verismo“. Opernarien. Krassimira Stoyanova, Münchner Rundfunkor­ch., Pavel Baleff. (Orfeo/Naxos) Historisch­e Aufnahmen • Tatjana Nikolajewa – Prag Recordings 1951-1954. Tschechisc­he Philharmon­iker, Konstantin­Iwanov. (Supraphon/Note 1) Zeitgenöss­ische Musik • Salvatore Sciarrino: Un’immagine di Arpocrate. Tamara Stefanovic­h u.a. Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks, Jonathan Nott. (Neos/Harmonia mundi) Grenzgänge • Theo Bleckmann: Elegy. Universal) Jazz • Richard Galliano: New Jazz Musette. (Ponderosa/Q-rious) • David Murray, Aki Takase: Cherry Sakura. (Intakt/Harmonia mundi) Alternativ­e • Candelilla: Camping. Indigo) Hard & Heavy • Kreator: Gods Of Violence. Blast/Warner) Electronic & Experiment­al • Sampha: Process. (XL/Beggars Group/Indigo) R&B, Soul & HipHop • Omar: Love In Beats. Records/SPV) Blues • Big Daddy Wilson: Neckbone Stew. (Ruf Records/In-Akustik) Liedermach­er • Johan Meijer: Dazumal – Europeana. (www.nederossi.com) Folk & Weltmusik • Seth Lakeman: Ballads Of The Broken Few. (Cooking Vinyl/Sony) • Aurelio: Darandi. (Stonetree/Real World/Rough Trade) • Nishtiman Project: Kobane. Kurdistan. Hussein Zahawy u.a. (Accords croisés/Harmonia mundi) Hörbuch • Fjodor Dostojewsk­i: Verbrechen und Strafe. Walter Adler, Sylvester Groth u.a. (Audio Verlag) Kinder & Jugendaufn­ahmen • Michelle Cuevas: Kasimir Karton – mein Leben als unsichtbar­er Freund. Ulrich Noethen u.a. (Audio Verlag) (ECM/ (Trocadero/ (Nuclear (Freestyle

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