Urteil gegen Missbrauchs Arzt gekippt
Justiz Der Augsburger Kinderarzt Harry S. hat jahrelang Jungen entführt und missbraucht. Dafür wurde er knapp unter der Höchststrafe verurteilt. Kommt er nun womöglich früher wieder frei?
Augsburg Es waren mindestens 20 junge Opfer – und ein Sexualtäter, der im Lauf der Zeit immer weiter seine Hemmungen verlor. Im März vorigen Jahres ist der Augsburger Kinderarzt Harry S., 42, wegen einer Serie von sexuellen Übergriffen auf Kinder, die in der Entführung eines fünfjährigen Jungen gipfelte, verurteilt worden. Die Jugendkammer des Landgerichts verhängte damals fast die Höchststrafe: dreizehneinhalb Jahre Haft, danach Sicherungsverwahrung und lebenslanges Berufsverbot. Doch nun kann Harry S. auf eine mildere Strafe hoffen. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil nach Informationen unserer Redaktion aufgehoben.
Es geht in dem Fall längst nicht mehr um die Frage, ob Harry S. die Taten wirklich begangen hat. Er hatte zu Prozessbeginn ein Geständnis abgelegt und räumte ein, dass er seit Ende der 1990er Jahre immer wieder Jungen missbraucht hatte. Viele Opfer sprach er auf der Straße an und lockte sie in Keller oder Tiefgaragen. Er missbrauchte Jungen bei Ausflügen für sozial benachteiligte Kinder, die er selbst organisierte. S. nutzte dafür sein Ansehen als ehrenamtlicher Chefarzt des Roten Kreuzes in Augsburg. In einigen Fällen verging er sich auch an Kindern von Frauen, mit denen er eng befreundet war. Einige Jungen betäubte er, damit sie nichts merkten.
Die Serie gipfelte im August 2014 in der Entführung eines fünfjährigen Jungen bei Hannover. S. hatte seinen Job am Klinikum Augsburg aufgegeben und war seit einiger Zeit in Hannover tätig. Er missbrauchte den Jungen in seiner Wohnung und setzte ihn völlig verstört wieder aus. Im Zuge bundesweiter Ermittlungen kam die Polizei ihm danach auf die Schliche. Mitte Oktober wurde der bis dato angesehene Arzt verhaftet. Seither ist er hinter Gittern.
Eine Chance auf eine schnelle Freilassung hat Harry S. auch jetzt, nach der Aufhebung des Urteils, nicht. Denn seine Taten sind so gravierend, dass sie auf jeden Fall eine langjährige Haftstrafe zur Folge haben. Zunächst bedeutet die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass der Prozess vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts neu verhandelt werden muss. Es muss dabei nicht mehr geprüft werden, ob Harry S. der Täter ist. In erster Linie geht es um diese Frage: Ist der Kinderarzt voll schuldfähig, so wie es das Gericht im ersten Urteil angenommen hat? Oder war sein sexuelles Verlangen doch so krankhaft, dass er sich nicht mehr richtig kontrollieren konnte? Juristen sprechen in solchen Fällen von „verminderter Schuldfähigkeit“. Die Strafe müsste wohl spürbar gemildert werden.
Fraglich ist dann auch, ob es bei der Sicherungsverwahrung bleibt. Im ersten Urteil wurde festgelegt, dass der Arzt nach der Zeit im Gefängnis nicht freikommt, sondern in eine Einrichtung für Sicherungsverwahrte. Er müsste dortbleiben, bis Gutachter ihm bescheinigen, dass er nicht mehr gefährlich ist. Bei ausgeprägter Pädophilie kann das ein langer Aufenthalt werden. Pädophilie gilt als nicht heilbar. Ziel einer Therapie ist in der Regel, dass der Betroffene lernt, sich zu kontrollieren.
In einem neuen Prozess könnte nun festgelegt werden, dass Harry S. gleich zur Behandlung in eine geschlossene psychiatrische Klinik kommt – und er nicht erst die Haftstrafe absitzen muss. So könnte er früher auf Bewährung freikommen. Auch hier gilt aber: Eine Entlassung erfolgt nur, wenn man ihn als erfolgreich therapiert einstuft.
Die Richter müssen einen neuen Gutachter beauftragen, der die Frage der Schuldfähigkeit erneut prüft. Ob dazu noch einmal die jungen Opfer des Arztes aussagen müssen, ist unklar. S.’ Verteidiger Moritz Bode und Ralf Schönauer sehen sich durch die Entscheidung der Bundesrichter in ihrer Kritik am Urteil bestätigt. Sie hatten schon direkt nach dem ersten Prozess die Strafe als zu hart kritisiert und deshalb Revision eingelegt. Die Anwälte gehen davon aus, dass S. bei seinen Taten nur eingeschränkt schuldfähig war.
Was bedeutet die Aufhebung des Urteils für die Opfer, die nach dem mehrmonatigen Prozess froh waren, mit der Sache abschließen zu können? Anwältin Marion Zech vertritt einen jungen Mann, der als Jugendlicher von Harry S. betäubt und missbraucht worden ist. S. war für ihn eine Art Ersatzvater. Marion Zech sagt: „Meinem Mandanten war es wichtig, dass Harry S. sich zu den Taten bekannt und er Verantwortung übernommen hat.“Wie hoch die Strafe genau ausfällt, sei für den jungen Mann dagegen nicht so entscheidend.
Die Verteidiger sehen sich in ihrer Kritik bestätigt