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Streitschrift Der Unterricht wird nicht besser, wenn Computer und Internet darin einen immer größeren Platz einnehmen. Im Gegenteil: Die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen leiden darunter.
Ulm/Dillingen Bitte stellen Sie sich einmal vor:
(1) Deutschlands Chef-Feuerwehrmann empfiehlt Brandbeschleuniger zum Löschen.
(2) Deutschlands Chirurgen empfehlen neue Operationsmethoden, bei denen bisher alle Patienten verstorben sind. Man müsse eben noch die richtigen Konzepte der Anwendung erarbeiten, was der Einführung nicht im Wege stehen solle.
(3) Stellen Sie sich zudem vor, dass die deutschen Autobauer den Führerschein für Dreijährige fordern, damit Deutschland als WeltAuto-Nation Nummer eins konkurrenzfähig bleibe.
(4) Die SPD schlägt vor, man solle die Unterschiede zwischen Arm und Reich vergrößern.
(5) Die Vereinigung der deutschen Winzer und Bierbrauer hat durchgesetzt, dass schon in Kindergarten und Grundschule flächendeckend und verpflichtend ein Alkoholkompetenztraining erfolgt – beginnend mit einem halben Schnaps am Tag. Es drohe sonst die Gefahr, dass wir unseren Vorsprung im Know-how verlieren, liegen wir doch im europäischen Durchschnitt beim Schnaps-Ausschank in den Bildungseinrichtungen deutlich abgeschlagen im unteren Mittelfeld.
(6) Stellen Sie sich jetzt noch vor, Deutschlands Mathe-Professoren schlagen Alarm mit der Feststellung, dass die Abiturienten im Land der Denker selbst bei guten Noten nicht einmal den Stoff der Mittelstufe beherrschen, es also bei Dreiecken, Brüchen, einfachen Gleichungen, binomischen Formeln, Potenzen und Wurzeln hapert, von Logarithmen gar nicht zu reden. Mathematische Inhalte würden nur noch oberflächlich vermittelt, häppchenweise, ohne roten Faden und tiefere Beschäftigung.
Sie können sich das alles nicht vorstellen? Dann lesen Sie weiter, denn genau dies ist in Deutschland Realität! Allerdings nicht bei der Feuerwehr, den Chirurgen, im Auto- oder im Weinbau, sondern bei unserem wertvollsten, wichtigsten, und höchsten Gut: den Kindern und Jugendlichen.
Der Umgang mit digitaler Informationstechnik in ihrer Freizeit – im Durchschnitt täglich fünf bis sieben Stunden – führt nachweislich zu Aggressivität, Ängsten, Aufmerksamkeitsstörungen, Bewegungsmangel (Übergewicht und Diabetes), Bluthochdruck, Depression (einschließ- lich Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken), Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit, Schlafstörungen (mit nachfolgender Tagesmüdigkeit), Stress, geringer Lebenszufriedenheit und Sucht.
Je mehr Freizeit ein Schüler mit digitalen Medien wie Computer oder Spielekonsole verbringt, desto geringer sind dessen Schulleistungen. Auch wenn digitale Medien im Klassenzimmer eingesetzt verwendet werden, sinkt der Lernerfolg der Schüler gleich aus mehreren Gründen:
Werden digitale Medien zur Informationsbeschaffung eingesetzt, haben sie einen dämpfenden Effekt auf das Behalten des Gelernten, denn sie verführen zur Oberflächlichkeit (Science 333: 776) und lenken ab (Computers & Education 62: 24). Aus dem gleichen Grund behalten Kinder bei einem Museumsbesuch mehr vom Gesehenen, wenn sie Kamera bzw. Smartphone nicht dabei haben (Psychological Science 25: 396).
Elektronische Lehrbücher vermindern den Lernerfolg im Vergleich zu gedruckten Büchern (Science 335: 1570). Sogar Studenten im Silicon Valley lesen zu 85 Prozent lieber gedruckte Bücher, weil sie sich dann „die Inhalte besser merken können“(doi.org/10.1016/j.acalib.2015.03.009).
Ferner lernt man beim Mitschreiben mehr als beim Mit-Tippen (Psychological Science 25: 1159) und Suchmaschinen können ganz prinzipiell bei der Informationsbeschaffung nur in dem Maße helfen, wie schon Vorwissen zum jeweiligen Fachgebiet besteht. Hierzu ein Beispiel: Wer „Kopfschmerzen“oder „Muskelzuckungen“googelt, landet schnell bei „Hirntumor“oder „ALS“, wie bereits im Jahr 2009 Ingenieure der Firma Microsoft herausfanden. Mittlerweile wissen wir, dass die Sorgen und Ängste – man spricht tatsächlich von Morbus Google – zusätzliche Gesundheitskosten verursachen. Dabei ist die Abhilfe ganz einfach: Wenn man im Bereich der Medizin googelt, ist es hilfreich, wenn man zuvor Medizin studiert hat! Gehirne machen keine schnellen Downloads, sondern beschäftigen sich mit Sachverhalten, wodurch sie sich langsam ändern. So funktioniert Lernen! Je geringer die Vorbildung, desto geringer die Lernleistung! Ungebildete brechen Online-Kurse daher häufiger ab als Gebildete (Science 355: 251).
Was genau geschieht, wenn man Computer ins Klassenzimmer einführt, wurde erst vor wenigen Wochen wieder einmal eindrucksvoll publiziert (Psychological Science 2017, 28: 171). Der gesamte während des Computer-gestützten Unterrichts ablaufende Internetverkehr wurde aufgezeichnet und ausgewertet und zudem wurden die Schüler (Alter: 17 bis 18 Jahre) nach ihrer Nutzung der digitalen Medien im Unterricht befragt. Wie gut gelernt wurde, wusste man auch aus den Noten im Abschlussexamen. Ergebnis: Es fand sich kein Zusammenhang zwischen der kursbezogenen Computernutzungszeit und dem Lernerfolg. Demgegenüber fand sich jedoch ein signifikanter negativer Zusammenhang zwischen dem Lernerfolg und der mit nicht unterrichtsbezogenen Inhalten (Facebook, Twitter, Spiele, Videos) verbrachten Zeit am Computer (im Durchschnitt ein Drittel der Unterrichtszeit). Je größer diese Zeit beim einzelnen Schüler war, desto schlechter schnitt er im Kurs ab. Die Schüler selbst bemerkten diesen Zusammenhang jedoch nicht. „Das Fehlen eines Lernvorteils beim Nutzen von Computern für unterrichtsbezogene Inhalte und der verheerende Einfluss von nicht unterrichtsbezogener Computernutzung stellt die Politik, die Schüler zur Nutzung ihres Computers im Unterricht zu ermuntern, in Frage“(S. 9) kommentieren die Wissenschaftler abschließend ihre Ergebnisse.
Die Auswirkungen mitgebrachter schülereigener digitaler Endgeräte auf das Lernen wurden auch hierzulande untersucht, wenn auch mit weniger technischem Aufwand. Der Hamburger Bildungswissenschaftler Rudolf Kammerl und Mitarbeiter publizierten im Herbst 2016 die Ergebnisse, die so verheerend waren, dass der Hamburger Schulsenator ihre Publikation zunächst zu verhindern suchte. Denn auch deutsche Schüler sind in Facebook oder WhatsApp, chatten, kaufen ein, schauen Videos oder spielen – im Unterricht, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt, mit unguten Folgen: „Wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht lernen und sich gleichzeitig mit unterrichtsfernen Dingen am Smartphone, Tablet oder Laptop beschäftigen, leidet ihr Lernfortschritt“(S. 10). Nicht einmal im Umgang mit Computer und Internet werden Schüler besser, wenn sie im Unterricht beides verwenden. Besonders zu denken gibt: „Hinsichtlich der Informationskompetenz zeigte sich, dass kompetentere Schülerinnen und Schüler signifikant seltener Wikipedia verwenden und häufiger Bibliotheken nutzen“(S. 92).
Eine große Studie an 90 Schulen und über 130000 Schülern zeigte, was geschieht, wenn man Mobiltelefone an Schulen verbietet: Die Schulnoten werden besser. Besonders wichtig dabei: Je schwächer die Schüler vor dem Verbot waren, desto mehr profitierten ihre Leistungen vom Verbot.
In der Diskussion um die Nutzung digitaler Medien an Bildungsinstitutionen findet deren Suchtpotenzial kaum Beachtung, obwohl dies derzeit weltweit zum Problem wird. Die häufig als präventive Maßnahme empfohlene frühe Konfrontation von Kindern mit digitaler IT ist daher gefährlich, handelt es sich dabei doch um das, was man bei illegalen Drogen als „Anfixen“bezeichnet: Es wird Abhängigkeit erzeugt. Entsprechend gilt die reduzierte Nutzung digitaler Medien als wichtigste Maßnahme der Suchtprävention bei Kindern.
Kommen wir zurück zu Ihren Vorstellungen vom Anfang:
(1) Die Chefin der Kultusministerkonferenz der Länder 2016, Claudia Bogedan, hat sich im letzten Herbst vehement für mehr Smartphone-Gebrauch im Unterricht eingesetzt – eine Maßnahme, die dem Lernen in Schulen massiv schadet.
(2) Die Bundesforschungsministerin Johanna Wanka machte ebenfalls im Herbst 2016 mit dem Digital-Pakt Deutschland von sich reden, einer Fünf-Milliarden-Spritze für die Länder zur Digitalisierung von Schulen (Internetanschlüsse, WLAN). Voraussetzung sei allerdings, dass sich die für Schulbildung zuständigen Länder verpflichteten, pädagogische Konzepte zu erarbeiten. Hier werden also erst fünf Milliarden ausgegeben und dann überlegt, wie man den damit eingekauften Krempel im Unterricht einsetzt, bei zugleich im Überfluss bereits vorhandenem Wissen, dass die Digitalisierung dem Lernen schadet. In der Medizin wäre ein solches Vorgehen undenkbar, in der Pädagogik ist es Realität!
(3) Verschiedene Verbände und Gewerkschaften fordern seit Jahren den Internetführerschein in der Grundschule. Internet und Smartphone bedeuten den Zugang zum mittlerweile größten Rotlichtbezirk und Tatort der Welt, von den vielen halbkriminellen Abzockern einmal gar nicht zu reden. Den Führerschein erwirbt man frühestens mit 17, weil die aktive Teilnahme am Straßenverkehr ein Minimum an Kritikfähigkeit, Selbstbeherrschung und moralischer Integrität voraussetzt. Warum soll das beim Internetführerschein anders sein?
(4) Politiker aus dem eher linken Spektrum geben oft zu bedenken, dass digitale Medien dazu geeignet seien, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Bei diesem Gedanken handelt es sich jedoch um ideologisch motiviertes Wunschdenken, denn die Unterschiede im Bildungserfolg armer und reicher Kinder werden durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht nachweislich größer.
(5) Bildungsverantwortliche und Medienvertreter sowie Vertreter der IT-Branche werden seit Jahren nicht müde, zu betonen wie wichtig es sei, mit der digitalen Bildung so früh wie möglich zu beginnen. Ihnen muss man entgegenhalten: Digitale Medien erzeugen Sucht und schaden der Bildung. Wenn Deutschland bei der Digitalisierung im Mittelfeld oder darunter liegt, ist dies Anlass zur Freude!
Angesichts des Sachstandes ist interessant, wie zwei ferne Länder auf die Digitalisierung der Lebenswelt junger Menschen reagieren. In Australien wurden im Jahr 2012 circa 2,4 Milliarden australische Dollar in die Laptop-Ausstattung von Schulen investiert. Seit 2016 werden sie wieder eingesammelt. Die Schüler haben alles Mögliche damit gemacht, nur nicht gelernt.
Südkorea produziert weltweit die meisten Smartphones, kennt deren Gefahren und steuert gegen: Seit Mai 2015 gibt es dort – weltweit erstmals – ein Gesetz, das die Smartphone-Nutzung von Menschen unter 19 Jahren einschränkt. Mittels Software werden der Zugang zu Pornografie und Gewalt sowie nachts zu Spielen blockiert, und die Eltern benachrichtigt, wenn der tägliche Smartphone-Gebrauch (in Südkorea im Durchschnitt 5,4 Stunden täglich) ein bestimmtes Maß überschreitet. Bei einem Anteil von Smartphone-Süchtigen unter den 10- bis 19-jährigen Menschen von 30 Prozent (Angaben des Wissenschaftsministeriums) erscheint dies auch geboten.
Bei der Digitalisierung von Kindergärten und Schulen steht weit mehr auf dem Spiel als die Erfüllung der Lehrpläne. Es wird Zeit, dass wir den digitalen Hype durch belastbare Fakten ersetzen, denn es geht um nichts weniger als um die Gesundheit und die Bildung der nächsten Generation. Wir dürfen nicht wegschauen, denn damit liefern wir unsere nächste Generation den Profitinteressen der reichsten Firmen der Welt aus: Apple, Google, Microsoft, Facebook, Amazon
Digitale Medien verführen zur Oberflächlichkeit
Reduzierte Nutzung ist Suchtprävention
Was Südkorea anders macht als Deutschland
und so weiter. Das ist verantwortungslos, denn kein Profit der Welt kann wichtiger sein als unser höchstes Gut: unsere Kinder!
(6) Übrigens: Dass die MatheProfessoren Deutschlands Alarm schlagen, brauchen Sie sich nicht vorzustellen. Es ist am 17. März 2017 in einem offenen Brief an die Kultusminister geschehen.