Großer Grimm der Grauköpfe
Vor wenigen Jahren war unser Land noch von Groß- und Kleinbürgern, von Bildungs- und Neubürgern, von Acker- und Staatsbürgern besiedelt. Jetzt rückt eine neue Erscheinungsform der bürgerlichen Existenz in den Vordergrund: Die Gegenwart gehört dem Wutbürger.
Denn in jeder zweiten Wohnung sitzt jetzt ein Mensch, der nicht nur bei der „Tagesschau“in Rage gerät. Früher schikanierte der Ehemann problemlos seine Frau, der Firmenchef seine Mitarbeiter, der Lehrer seine Schüler. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Wahl von Betriebsräten und die moderne Kuschelpädagogik haben die Möglichkeiten ungehinderter Aggressionsentfaltung stark eingeschränkt. Sigmund Freud wusste es: Ergebnis solcher Bändigung ist die tägliche Wut.
Nicht jeder Wutbürger demonstriert auf der Straße gegen G20-Gipfel, Fake News und Hähnchenmastbetriebe. Manche Wut verraucht, wenn der Wutbürger ohne öffentliches Spektakel den Glyphosat-Salat oder die industrielle Teigling-Semmel auf dem Tisch ausgiebig beschimpft.
Thilo Sarrazin hat beobachtet, dass die landesweite Wut vor allem „gut gekleidete Grauköpfe“heimsucht. Damit ist sogar Goethe widerlegt. Irrtümlich behauptete der Dichter in der Ballade „Die Braut von Korinth“: „Das junge Volk erliegt der Wut.“