Ein Angriff auf das Herz Barcelonas
Es sind Bilder, die die spanische Stadt nicht vergessen wird: Ein Lieferwagen rast über die Flaniermeile, Touristen rennen um ihr Leben. So wie vier Mädchen aus Franken. Oder ein Pfrontener, der dem Anschlag knapp entkommen ist. Und was machen die Katalan
Barcelona/Tarragona Einen ganz kurzen Moment lang denkt Ingo Reinsberger, dass irgendwo auf der Straße ein Star aufgetaucht sein muss. Weil die Menschen hier, auf den Ramblas in Barcelona, zu schreien beginnen, weil viele losrennen. Einen Moment später ist dem 51-Jährigen klar, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Menschen strömen ins Hardrock Café, wenige Meter von der Prachtmeile entfernt an der Plaça de Catalunya, suchen Deckung, verkriechen sich mit weinenden Kindern unter den Tischen. Durch das Fenster sieht Reinsberger Passanten auf dem Boden liegen, beobachtet, wie Polizei und Krankenwagen auf die Prachtmeile einbiegen – dort, wo Minuten zuvor ein weißer Lieferwagen in die Menge gerast war.
Dabei sollte dieser Donnerstag ein besonderer Tag für Reinsberger, seine Frau und seine Tochter werden, die derzeit an einem Campingplatz an der Costa Brava Urlaub machen. Sie brachen zu einem Tagesausflug nach Barcelona auf, gemeinsam mit einer Freundin und deren Tochter. „Ich hatte schon auf der Hinfahrt ein komisches Gefühl“, sagt der Mann aus Pfronten im Ostallgäu.
Am Tag danach wird Reinsberger klar, wie leicht der Terroranschlag auch seine Familie hätte treffen können. Zehn Minuten bevor der Lieferwagen im Zickzackkurs Menschen umfährt, war seine Frau noch dort unterwegs. Die Reinsbergers hatten sich aufgeteilt. Jeder soll den Stadtbummel dort genießen, wo es ihn am meisten hinzieht.
Die Ramblas sind eine der Hauptattraktionen in Barcelona. Ein breiter Boulevard, von Bäumen beschattet, an dem sich, bis hinunter zum alten Hafen der Stadt, historische Häuser, alte Markthallen, urige Cafés, Hotels und Restaurants reihen. Es ist die Promenade, auf die es jeden Tag tausende Touristen zieht, auf der die Barça-Fans feiern, wenn ihr Fußballklub den ewigen Kon- kurrenten Real Madrid in die Knie zwingt.
Gegen 16.50 Uhr am Donnerstag registrieren die Überwachungskameras einen Fiat-Transporter an der Plaça de Catalunya, der auf die Allee einbiegt. Doch der Mann am Steuer nimmt nicht die dafür vorgesehenen Fahrstreifen. Er rast auf den Fußgängerbereich in der Mitte der Allee zu, fährt Schlangenlinien, gibt noch mehr Gas, überrollt, wie die Polizei später feststellen wird, „mehr als einhundert Menschen“. Und die Behörden werden sagen: „Sein Ziel war es, so viele Menschen wie möglich zu überfahren.“
Nizza, Berlin, London und jetzt Barcelona: Die Anschläge, die stets die Terrormiliz IS für sich reklamiert, ähneln sich. Ziel sind Passanten, Touristen, Menschen, die ausgehen, feiern, das Leben genießen wollen. In Barcelona traf es vor allem Touristen. Am Tag nach dem Terrorakt sind viele in der 1,6-Millionen-Stadt noch immer geschockt.
Auch die vier Mädchen, die mit ihrer Jugendgruppe aus dem Kreis Main-Spessart vor Ort sind. Am Donnerstag bummeln die Mädchen über die Ramblas, als sie hinter sich ein Geräusch hören. Es ist der weiße Transporter. Die Mädchen drehen sich um, sehen, dass der Wagen heranrast. Sie springen zur Seite, bringen sich in einem Hotel in Sicherheit. Andere werden vom Transpor- ter erfasst, durch die Luft geschleudert. Ana und Cristina, zwei spanische Urlauberinnen, haben Glück. Sie schaffen es, rechtzeitig zur Seite zu rennen: „Er hat alles mit seinem Wagen umgemäht – Menschen und Verkaufsstände“, erzählen sie.
Nach gut einem halben Kilometer kracht der Transporter in einen Kiosk. Der Fahrer, der im Polizeifunk als ein „Mann mit weiß-blauem Streifenhemd“beschrieben wird, verschwindet in den Gassen Barcelonas. Zurück bleiben auf dem Boden liegende, leblose Körper – und eine Spur des Todes.
Mindestens 13 Menschen sind tot, 130 zum Teil schwer verletzt. Unter den Verletzten sind auch 13 Deutsche. Ob bei dem Anschlag auch Deutsche gestorben sind, war am Freitagabend noch unklar. Noch sind nicht alle Todesopfer identifiziert.
Bruno Gulotta hat seinen fünfjährigen Sohn Alessandro an der Hand gehalten, als er von dem Lieferwagen erfasst wurde. Seine Frau Martina trägt die einjährige Tochter auf dem Arm, schafft es noch, den Buben wegzuziehen.
Ingo Reinsberger und seine Familie ahnen zu dieser Zeit noch nicht, dass das Hardrock Café für die nächsten Stunden zu ihrem Bunker werden soll. Als die Terrormeldung die Runde macht, verrammeln die Mitarbeiter die Türen, lassen die Eisengitter hinunter. Drinnen trösten sich Besucher und die, die von den Ramblas geflüchtet sind, gegenseitig. Die Mitarbeiter im Café versorgen die Gestrandeten. „Die Hilfsbereitschaft war phänomenal“, sagt Reinsberger am Tag danach.
Andere genießen zu dieser Zeit noch ihren Urlaub. So wie Stefan Häck aus Ulm. Seit Mittwoch macht er mit seiner Familie in Tarragona Urlaub – 100 Kilometer südlich von Barcelona und nur 20 Kilometer entfernt von Cambrils, wo am frühen Freitagmorgen ein schwarzer Audi in eine Menschengruppe rast. Eine Frau stirbt, fünf Passanten und ein Polizist werden verletzt, ehe die Beamten die fünf Angreifer töten.
Häck hat erst durch einen Anruf der Familie vom Terroranschlag erfahren, sich dann im Internet ein Bild von der Lage gemacht. „Sonst würde man hier gar nichts mitkriegen“, sagt er. Und, dass von Panik keine Spur sein könne. „Die Touristen sind gestern wie heute ganz normal auf den Straßen unterwegs. Nur das Polizeiaufgebot wurde wesentlich erhöht.“Der 40-Jährige berichtet von Zufahrtsbeschränkungen in die Innenstadt, davon, dass Polizisten mit Maschinenpistolen im Einkaufszentrum patrouillieren und gepanzerte Fahrzeuge auffahren.
In Barcelona legen die Menschen am Freitag Blumen nieder, zünden Kerzen an – und sie strömen auf die Ramblas, um den Attentätern zu zeigen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen. Tausende versammeln sich um 12 Uhr auf dem Plaça de Catalunya – dort, wo die Todesfahrt ihren Ausgang genommen hat. Stille kehrt ein. Eine Minute lang schweigt das sonst pulsierende Herz der katalanischen Metropole. Dann aber kommt das wahre Wesen der weltoffenen, fröhlichen Stadt wieder an die Oberfläche: Minutenlang applaudieren die Bürger frenetisch im Gedenken an die Opfer. Ein Chor auf Katalanisch brandet auf: „No temim por“– Wir haben keine Angst!
Aina Ramis hat mitgeklatscht, mitgesungen, mit Gänsehaut und Tränen in den Augen. „Barcelona wird sich nicht ändern, die Stadt trauert, die Polizeipräsenz wird sicher in Zukunft höher sein, aber Barcelona bleibt so, wie es ist“, sagt die 24-jährige Journalistin. Und doch beschleicht die gebürtige Mallorquinerin ein beklemmendes Gefühl, wenn sie an ihre Heimatinsel denkt. „Auch dort könnte es passieren.“
Es ist das, was in Spanien eigentlich keiner aussprechen will: dass der Terror irgendwann auch die Touristenhochburg Mallorca treffen könnte. Denn Spanien und speziell die Insel sind für Millionen Reisende bislang eines der verlockendsten und vor allem sichersten Urlaubsziele – auch, weil man keine politischen Unruhen oder Terroranschläge wie in der Türkei, in Ägypten und Tunesien fürchten muss. Seit dem vergangenen Donnerstag ist die Situation eine andere.
Daniel Vásquez wird diesen Tag nicht vergessen. Nicht nur, weil es sein 35. Geburtstag war. Nicht nur, weil sein Telefon ab dem späten Nachmittag nicht mehr stillstand und Freunde und Familie sich vergewissern wollten, dass es ihm gut geht. Dass nun auch in Barcelona ISTerroristen Menschen in den Tod gerissen haben, überrascht ihn nicht. „Es hätte uns schon viel früher treffen können, und es war klar: Wenn es hier passiert, dann wird es auf der Rambla sein“, sagt er. Vásquez hat 2004 in Madrid gewohnt, hat dort die Zuganschläge von Atocha
Er wollte so viele Menschen wie möglich überfahren
Die Mutter kann nur noch den Sohn von der Straße ziehen
mitbekommen. Er sagt, dass sich auch die Katalanen von dem Schock erholen werden. „Unser Glück ist ja, dass der Mensch ein ausgesprochenes Kurzzeitgedächtnis hat.“Das gelte auch für Touristen, vermutet er. „Vielleicht gibt es in den nächsten Wochen einen kleinen Einbruch, aber danach wird auch auf der Rambla wieder alles sein wie immer: voll, voll, voll.“
Kann man noch guten Gewissens nach Barcelona reisen? Auf Mallorca Urlaub machen? Es sind Fragen, die sich auch Nicole Straßer aus Kempten in diesen Tagen stellt. „Bisher dachte ich: Spanien ist sicher.“Am Donnerstag hat sie um ihren Bruder gebangt, der in Barcelona arbeitet. Die 44-Jährige sagt: „Wenn man jemanden kennt, der bei einem Anschlag vor Ort ist, macht man sich andere Gedanken.“
Ingo Reinsberger und seine Familie werden noch ein paar Tage in Spanien bleiben, dann weiter nach Frankreich. Vorher aber wollen sie noch einmal nach Barcelona, sich bei den Mitarbeitern im Hardrock Café bedanken. Sie wollen die Straße, die so schlagartig von der fröhlichen Flaniermeile zum Platz des Grauens wurde, noch einmal besuchen, Blumen niederlegen und ihre Erlebnisse verarbeiten. Damit, schätzt Reinsberger, werden sie wohl noch Monate zu tun haben. Wie viele Menschen in Barcelona. (mit dpa, afp)