Wenn der Wahnsinn um sich greift
Der „Lear“ist auch auf der Opernbühne ein herausragendes Drama. Das zeigt sich gerade wieder in Salzburg
Moderne Oper hat’s nicht leicht. Einmal uraufgeführt und vielleicht ein-, zweimal nachgespielt, schon verschwindet das Meiste wieder von der Bildfläche. Welcher Opernfreund kann schon sagen, um nur mal die Zeitspanne seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu nehmen, den Bühnenwerken eines Wolfgang Fortner oder Gottfried von Einem, eines Hans Werner Henze, Siegfried Matthus oder Udo Zimmermann öfter begegnet zu sein, von Karlheinz Stockhausen ganz zu schweigen?
Gründe dafür gibt es viele. Dazu gehört etwa, dass Komponisten gerade nach 1945 sich von überkommenen musikalischen Mustern lösten und einer „fortschrittlichen“Ästhetik neuer Klangmöglichkeiten den Vorzug gaben. Ein Avantgardekonzept, mit dem weite Publikumskreise nicht immer Schritt halten mochten. Vor der Komplexität manch neuer Opernpartitur schrecken aber auch viele Bühnen zurück, keineswegs nur die kleinen.
Und doch gibt es Ausnahmen. „Lear“von Aribert Reimann zählt dazu. Nicht nur, dass gleich die Münchner Uraufführung 1978 zum Durchbruch geriet; die Vertonung des Shakespeare-Dramas hielt sich fünf weitere Jahre im Spielplan der Bayerischen Staatsoper. Aber auch diverse weitere Häuser verlangten nach „Lear“. Eine vergleichbare Erfolgsgeschichte einer deutschen Oper in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nur noch den „Soldaten“von Bernd Alois Zimmermann beschieden. Jetzt schreiben die Salzburger Festspiele in der letzten Neuinszenierung dieser Saison die Karriere des „Lear“fort.
Natürlich beruht der Erfolg der Oper nicht zuletzt auf der Vorlage Shakespeares. Wobei man sich fragt, weshalb erst in den 1970er Jahren ein Opernkomponist sich in adäquater Weise dieses Stoffs bemächtigte. Wo doch vergleichbare Dramen wie „Othello“oder „Macbeth“einen dauerhaften Platz auf den Opernspielplänen haben, Verdi sei Dank. Apropos: Der Italiener hatte „King Lear“für eine Vertonung durchaus im Auge, ließ letztlich aber davon ab – misstraute er der Möglichkeit, Shakespeares Schauspiel in wirkungsvolles Musiktheater transformieren zu können?
Eben das ist Claus Henneberg mit seinem Libretto für Reimanns „Lear“geglückt. Henneberg hat Shakespeares Drama auf den Kern reduziert und zugleich noch geschärft. Es ist die Geschichte des alten Königs, der sein Reich an die drei Töchter geben will, wenn sie nur sagen, wie sehr sie ihn lieben. Doch während Goneril und Regan routiniert das Brave-Töchter-Programm abspulen, schweigt Cordelia. Lear verstößt sie, muss aber schon bald erfahren, wie die von ihm bevorzugten Töchter mit ihrer neuen Macht verfahren: Sie jagen ihn vom Hof. Lear verfällt dem Wahnsinn und versöhnt sich wieder mit Cordelia. Doch da ist das Mord-Räderwerk seiner älteren Töchter und ihres Verbündeten Edmund noch nicht zum Stillstand gekommen.
Reimann hat zu diesem tiefschwarzen Geschehen eine so scharfkantig-packende wie hoch anspruchsvolle Musik geschrieben. Souverän gebietet er über die Verfahren der Avantgarde wie etwa die Zwölftontechnik. Klangflächen dominieren, Reimann schichtet Dutzende von (Viertel-)Tönen übereinander zu machtvollen Clustern, und die Einbeziehung eines umfangreichen Schlagwerks in das herkömmliche Orchester verleiht dem Klangbild kompromisslose Härte. Die Musiksprache des „Lear“fordert das Ohr, manchmal auf geradezu schmerzhafte Weise. Aber wie will man auch der Folterung des Lear-treuen Grafen Gloster in Tönen anders entsprechen als durch bestialisches Trommelgeknüppel?
Der junge australische Regisseur Simon Stone hat die Oper in der Salzburger Felsenreitschule inszeniert und sich dafür von Bob Cousins einen langen Gras- und Blumenstreifen quer über die Bühne legen lassen, der am Höhepunkt des Geschehens die sturmgepeitschte Heide abgibt, über die der wahnsinnig Lear gegen die Elemente tobt. Entscheidender aber sind die Tribünen, die, spiegelbildlich zum Auditorium, auf der Bühne stehen, besetzt von festspielgekleidetem (Statisten-)Publikum. Hier liegt das zentrale Motiv von Stones Lesart: Alle schauen zu, wenn Schreckliches geschieht. Der Regisseur spitzt diesen Ansatz noch dadurch zu, dass er Edmunds Schergen wahllos Personen von den Tribünensitzen reißen und sie in eine Blutlache tunken lässt. Auf dass da keiner dieser scheinbar nur Zuschauenden meine, er bleibe vom Blutgeruch verschont.
Stones ebenso reduzierte wie konzentrierte szenische Handschrift wird getragen von einer Riege ausdrucksstarker Sängerdarsteller. Großartig Gerald Finley, der alles andere als ein altersschwaches Opfer ist, vielmehr den Jähzorn Lears zum Bruder des königlichen Wahnsinns erhebt und dabei seine Baritonstimmer bruchlos zwischen Deklamation und Gesang zu führen versteht. Vokal getoppt wird er allerdings noch von Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin: Als Goneril und Regan haben die Sopranistinnen fast pausenlos in exaltiert hoher Lage zu singen und hysterisch-eckige Tonsprünge zu meistern – was ihnen, bei famos fiesem Rollenspiel, keine Mühe zu bereiten scheint. Mustergültig besetzt auch Anna Prohaska als Cordelia und Kai Wessel als Edgar, auf Augenhöhe zudem der Edmund von Charles Workman und Michael Maertens’ Narr.
Wie Franz Welser-Möst dazu den Riesenapparat der Wiener Philharmoniker punktgenau mit den Sängern zu koordinieren versteht, wie er noch das dichteste orchestrale Klanggespinst in keinem Moment über das vokale Geschehen wuchern lässt, sodass alles mustergültig verständlich bleibt – das macht diesen „Lear“vollends zu einer Großtat der Salzburger Festspiele. Viel Beifall am Ende, jedoch auch einige Buhs für die Regie – und ein gerührter 81-jähriger Aribert Reimann, der zum Schluss noch die Bühne erklomm und applaudiert wurde für seinen „Lear“, der auch bald vier Jahrzehnte nach der Uraufführung nichts vom Charakter eines Jahrhundertwerks verloren hat.
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