So mögen es die Briten
Das Klassikfestival im ländlichen Glyndebourne ist eine Institution auf der Insel. Hier gibt es nicht nur hochkarätige Aufführungen. Ausgiebig pflegt man auch die Tradition des Picknicks
Glyndebourne Mit britischer Gelassenheit stakst die Dame im langen schwarzen Abendkleid und HighHeels über den in englischer Manier perfekt getrimmten Rasen, in der einen Hand zwei Campingstühle, in der anderen eine Kühltasche voller Champagner. Die Pailletten ihrer Robe glitzern in der Nachmittagssonne noch mehr als sonst, an ihrer Seite schleppt ihr Mann im Smoking Tüten mit Lachs und Leinenservietten, Erdbeeren und Entenleber, Tafelsilber und Thermoskanne. Während der laue Wind das Blöken der Schafe von den nahen Feldern wie Begleitmusik herüberträgt und die Rosen, Glockenblumen und Palmen eine einzigartige Kulisse bilden, lässt sich die Gesellschaft auf den ausgedehnten Grünflächen nieder.
Es ist Dienstagnachmittag, und ein bisschen wirkt das Bild wie eine Flucht aus dem geschäftigen London, wo es angesichts des anstehenden Brexits und täglicher politischer Krisen stürmt und tost. Hier hingegen herrscht Ruhe. In den South Downs im Süden Englands scheint die Welt so heil und perfekt, wie geschaffen für eine Auszeit. Zunächst wird in Seelenruhe gepicknickt, und zwar mit Stil. Immerhin finden sich die Gäste zum traditionsreichen Glyndebourne Festival ein, wo die Briten nie nur wegen der hochklassigen Opern anreisen, sondern ihr liebstes Hobby in Höchstform zelebrieren können. Das Vergnügen am Picknick in den Gärten um das aus dem 16. Jahrhundert stammenden Herrenhaus aus roten Backsteinen steht dem Genuss der Kunstform Oper kaum nach.
Doch Glyndebourne ist alles andere als ein x-beliebiges Festival auf dem Lande. Vielmehr handelt es sich um eine der weltweit renom- miertesten Opernstätten mit hochgelobten Produktionen und berühmten Sängern und Dirigenten. „Wir sind durch und durch englisch mit unserer ländlichen Umgebung und der Tradition des Picknickens. Aber was wir auf der Bühne bieten, ist bezüglich Besetzung, Perspektive und Standard international“, sagt Serena Davies, KommunikationsChefin von Glyndebourne. Jedes Jahr besuchen rund 90 000 Menschen das Festival, das sich in einer Liga mit Salzburg oder Bayreuth sieht. Etwa zehn Prozent der Besucher kommen aus dem Ausland.
Diese Saison werden bis Ende August mit Cavallis „Hipermestra“, Verdis „La traviata“, Deans „Hamlet“, Strauss’ „Ariadne auf Naxos“, Donizettis „Don Pasquale“und Mozarts „La clemenza di Tito“fünf Produktionen auf die Bühne gebracht. „Die Opern waren und sind immer eine Mischung aus Tradition und Innovation“, sagt Davies. So habe man etwa vergessene Komponisten wiederentdeckt oder Premieren von bedeutungsvollen neuen Opern gefeiert wie in diesem Jahr „Hamlet“des Australiers Brett Dean.
Das Festival ist Teil der gesellschaftlichen Saison im Königreich, nur geht es deutlich weniger schrill und pompös zu als etwa beim Pferderennen Ascot. Früher kamen die Superreichen zwar noch im Helikopter, die auf einem der angren- zenden Felder landeten, doch irgendwann gab man den Gästen zu verstehen, dass Butler wie auch Hubschrauber unerwünscht sind. Stattdessen wurde eine Windkraftanlage errichtet. „Es kommt ohne Bling aus und ist so angenehm zurückhaltend“, findet denn auch ein Gast mit Namen Daniel, herausgeputzt mit schwarzer Fliege und wie seine drei Freunde Stammgast seit vielen Jahren. Das finanziell autarke Festival, das sich über Ticketverkäufe, Spender und Mitglieder trägt, kommt ohne offiziellen Dresscode aus und gibt doch eine Empfehlung – Abendkleid beziehungsweise Dinnerjacket –, die besser ernst genommen wird. Wer in Jeans oder Freizeithemd auftaucht, fällt auf, auch wenn die Höflichkeit der Briten einen Kommentar zur Unkorrektheit verbietet.
Es ist eines der ältesten Opernfestivals, gegründet vom wohlhabenden Musikfreund John Christie, der klagte, dass diese Form der Klassik in England beinahe „nicht existent“sei. Nachdem der adelige Landbesitzer Anfang der 1930er Jahre die Sopranistin Audrey Mildmay geheiratet und mit ihr sowohl die Festspiele in Salzburg als auch jene in Bayreuth besucht hatte, fasste das Paar den Plan, ebenfalls eine solche Stätte zu errichten. Mit Fritz Busch aus Dresden als Dirigent und dem ehemaligen Intendanten der Städtischen Oper Berlin, Carl Ebert, beide unter dem Hitler-Regime verfolgt, rief Christie das Festival in Glyndebourne ins Leben. Am 28. Mai 1934 öffnete sich zum ersten Mal der Vorhang für Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“.
Seitdem hat sich einiges getan, der Charme und die Intimität aber blieben. Augustus „Gus“Christie, Enkel des Gründers, leitet heute mit seiner Frau, ebenfalls Sopranistin, das Festival und lebt auch auf dem herrlichen Gelände. Das für seine akustische Brillanz gelobte Opernhaus fasst seit dem Neubau, der 1996 eingeweiht wurde, 1200 Besucher.
Doch es ist eben nicht nur der Zauber der Musik, der die Briten und Klassikfans aus aller Welt ins
„Wir sind durch und durch englisch.“
Etwas angeheitert geht es dann in die Aufführung
Schwärmen kommen lässt, wenn sie auf Glyndebourne angesprochen werden. Es ist die lässige und gleichzeitig festliche Atmosphäre, die das Festival so charmant macht, „die Mischung aus formell und informell“, wie einer der Gäste sagt. Er deutet auf die zahlreichen Besucher, die während der rund eineinhalbstündigen Pause von „La traviata“die Champagner entkorken, das Tafelsilber oder gar Kerzenleuchter auspacken und die weißen Tischdecken über die Campingtische werfen. Andere breiten Decken auf dem Gras aus, schenken sich Chablis in die weinglasförmigen Plastikbecher ein und genießen den Blick auf die wunderbare grüne Landschaft, während einige um den kleinen See herum spazieren, auf dem Rosen schwimmen.
Etwas angeheitert und mit vollem Magen geht es dann in den zweiten Teil der Vorstellung, bevor der Tag in Glyndebourne in der Regel gegen neun, halb zehn Uhr endet – und die Menschen aus der Idylle fast ein wenig unwillig in die geschäftige Realität zurückströmen.