Radeln mit Ritterromantik und Rembrandt
Mehr als 100 Wasserschlösser und Herrensitze: Der „Wilde Westen“lässt sich wunderbar mit dem Fahrrad erkunden – eine Natur- und Kultur-Tour zwischen Anholt, Raesfeld und Borken
Die rot-weißen Rotoren der Windräder kitzeln die Wolkendecke. Auf einer Koppel schnurpseln Pferde feuchtes Gras. Wenige hundert Meter weiter staksen graue Lämmer über eine Wiese. Es ist ein leiser Vormittag im Münsterland – unter einem weiten, weißen Wolkenhimmel. Zwei Damenräder parken auf dem Kopfsteinpflaster am Schleusenturm Gemen. Das Wasserschloss in Borken ist eine der Sehenswürdigkeiten an der 100-SchlösserRoute, die Radtouristen auf 960 Kilometern zu Herrensitzen, Gräftenhöfen und Burgen führt.
Neben dem Wassergraben haben sich im Matsch eines Ackers Dutzende Silbermöwen versammelt. Jugendliche schlendern in Grüppchen durch den frei zugänglichen Schlosspark – lachen und rauchen. Gemen ist in der Region bekannt: Die Burg gehört seit 1946 zu den großen katholischen Jugendbildungseinrichtungen. Mit jährlich 42 000 Übernachtungen und mehr als 2400 „Gefällt-mir“-Angaben bei Facebook ist das Wasserschloss ein beliebtes Ausflugsziel. Hinter den historischen Mauern verbergen sich 225 Betten und 27 Gruppenräume; davor plärrt Popmusik aus einem Smartphone: Mittelalter trifft Justin Bieber.
Rund 40 Kilometer westwärts, an der barocken Wasserburg Anholt, geht es ruhiger zu. Viel ruhiger. Der Park steht in sattem Grün. Einige Besucher spazieren zwischen pinkfarbenen Hortensien und außergewöhnlich gefärbten Rosenstämmen durch den sehenswerten Garten. Wie dicke weiße Bälle baden die Seerosenblüten im Burggraben. „Draußen ist die Waschküche“, sagt Maria Nehling und schüttelt den Kopf über die Wolken. „Eigentlich kann man dort hinten nämlich die Rheinbrücke von Emmerich sehen.“Heute sieht sie: Wolken. Bis zum Horizont. Und der kann ganz schön weit sein im Münsterland.
Maria Nehling fühlt sich mit dem Wasserschloss nahe der niederländischen Grenze seit Jahrzehnten verbunden: 1981 kam sie erstmals zum Museum, wo sie seit Jahren für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Schon ihr Großvater hat auf der Wasserburg für die Fürsten zu Salm-Salm gearbeitet. Ebenso ihr Vater. Heute liegt ihr eigenes Büro inmitten der im 12. Jahrhundert auf Eichenpfählen errichteten Festung.
Sie steht am Fenster im Dicken Turm. Hinter ihr: rund 500 historische Münzen; jahrhundertelang war das Anwesen Münzprägestelle. Da- Kurz informiert
● Allgemeines Die 100 Schlösser Route durch das Münsterland ist 960 Kilometer lang. Es gibt vier Rund kurse. Burg Anholt und Schloss Ra esfeld liegen auf dem Westkurs.
● Informieren Münsterland Touris mus, Tel. 02571 94 93 92, E Mail: touristik@muensterland.com Im Internet gibt es einen Blätterka talog und Karten zur 100 Schlösser Route: www.muensterland touris mus.de/5116/100 schloesser route radtour von erzählen die silbrigen Geldstücke; die ältesten in der Ausstellung stammen aus den Jahren 1227 bis 1246. Obwohl sich die Barockresidenz, die zu den größten und bekanntesten in Westfalen zählt, in Privatbesitz befindet und von der fürstlichen Familie bewohnt wird, sind viele der prächtigen Säle seit den 1960er Jahren öffentlich zugänglich: Im üppig ausgestatteten Museum in der Hauptburg schüttelt Maria Nehling aus dem Ärmel ihres roten Blazers Geschichte und Geschichten. Von Doktoranden, die im beachtlichen Bestand der um 1450 gegründeten Bibliothek forschen. Von verzierten Jagdgewehren, die in der Waffenkammer zu sehen sind. Von der einstigen Bedeutung des Schlosses als regionaler Heiratsmarkt – bei dem sich auch ihre Großeltern einst kennenlernten. In ihrer Hand klimpert der Schlüsselbund, mit dem sie jede noch so verborgene Tür in der Burg öffnet. Aus dem Jahr 1665 stammt der monumentale Rittersaal, in dem es kein Porträt gibt, das Maria Nehling nicht benennen und mit einer Anekdote spicken kann – als sei es ihr privates Fotoalbum.
Nicht immer ist die Wasserburg solch ein Vorzeigeschloss gewesen wie heute: Rund 70 Prozent der historischen Bausubstanz sind im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört worden. Mehr als 40 Jahre lang dauerte der Wiederaufbau. Wer heute die Stufen über den roten Teppich auf der Eichentreppe hinaufsteigt, ahnt von diesem kulturhistorischen Desaster nichts. Es geht hinauf in die Schatzkammer – die Gemäldegalerie. Ewa 700 Werke umfasst die Sammlung der Fürsten; sie ist eine der größten Kunstsammlungen in deutschem Adelsbesitz.
Das berühmteste Werk im Haus hängt inmitten anderer flämischniederländischer Bilder des 16. und 17. Jahrhunderts: Es ist Rembrandts „Diana mit Actäon und Callisto“, 1774 in Paris erworben. Ein düsteres Barockgemälde, das eine Szene aus Ovids Erzählung „Metamorphosen“zeigt. Die Jagdgöttin Diana badet mit ihren Nymphen in einer Quelle – und wird dabei vom Jäger Actäon beobachtet. Zur Strafe verwandelt sie ihn in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Maria Nehling erzählt die Geschichte des Bildes – und deutet dann auf ein anderes, weitaus unbekannteres Gemälde nebenan, des- sen Expressivität sie schätzt. „Ich bin keine Kunstexpertin“, sagt sie, „aber schauen Sie sich nur mal diesen Gesichtsausdruck an!“Lächelnd betrachtet sie „Die Hühneraugenoperation“von Pieter Symonsz Potter (1597–1652). Andere seiner Bilder hängen etwa im Amsterdamer Rijksmuseum. Weitere Kunstprominenz der Galerie ist unter anderen Lucas Cranach der Ältere.
Draußen wanken zwei Nilgänse über den Rasen am Kanalgarten. In der Gräfte, dem Wassergraben, schreit ein Blesshuhn nach Aufmerksamkeit, taucht ab und andernorts wieder auf. Das weiße Schwanenpaar steckt die Köpfe ins Gefieder und döst. Drinnen bleibt Maria Nehling vor einem Porträt stehen: „Und hier ist unser großer Kunstkenner“, sagt sie und deutet auf das Bildnis Ludwig Carl Ottos Fürst zu Salm-Salm (1721–1778). Er war der Sammler, dem das Museum viele wertvolle Gemälde verdankt. Der italienische Maler Bernardino Nocchi hat nicht nur Papst Pius VII. porträtiert, sondern auch den kunstbegeisterten Anholter Fürsten. Im leuchtend blauen Gewand mit roter Schärpe blickt Ludwig Carl Otto von der Wand der Galerie aus dem Fenster in den Schlossgarten, der zugleich naturnaher Landschaftspark und choreografierter Barockgarten ist.
Etwa 35000 Gäste haben sich die Wasserburg Anholt und den Park im vergangenen Jahr angesehen. „Früher reisten unsere Besucher noch mit dem Auto an“, sagt Nehling. „Heute kommen sie mit ihren E-Bikes.“Wer Strom für den nächsten Ausflug braucht, der findet am Parkhotel Anholt eine Ladestation für E-Bikes. Eine der nächsten Fahrradtankstellen gibt es 37 Kilometer weiter südöstlich: am Schloss Raesfeld, das der Reichsgraf Alexander II. von Velen Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet hat.
Schon von weitem ist der höchste westfälische Schlossturm zu sehen: Er ragt 52,5 Meter auf. Aufgewühlt schimpfen der Erpel und seine Begleiterinnen auf dem Vorburghof. Die Stockenten watscheln zielstrebig über die hölzerne Brücke – bloß weg. Warum nur? Ein Blick auf die Speisekarte des Restaurants im Wasserschloss Raesfeld verrät, woher ihre Fluchtgedanken rühren könnten: Heute steht Barbarie-Entenbrust an Rotweinjus auf der Menükarte. Doch die Enten sind offensichtlich die einzigen, die hier fliehen wollen. Denn bei jedem Wetter spazieren fotografierende und staunende Besucher durch den Schlossgarten um das Residenzschloss herum.
Die Gemäldegalerie ist die Schatzkammer des Hauses