Die EU tastet sich vorsichtig in die digitale Welt
Beim Gipfel in Tallinn lässt sich ein Musterland bestaunen. Aber andernorts dominieren die Bedenken
Brüssel Das übrige Europa darf neidisch sein. Die schöne neue digitale Gesellschaft, die Estland und seine baltischen Nachbarn den Staatsund Regierungschefs in Tallinn eindrucksvoll vorführte, klingt für die anderen wie ein schöner Traum. Steuererklärungen in drei Minuten, Erstattungen sind schon nach fünf Minuten da – alles per Mausklick. Staatliche Leistungen gibt es in Tallinn und dem Rest des Landes demnächst wohl ohne Antrag, weil die Daten der Bürger ohnehin ausnahmslos online verfügbar sind.
Diese Gigabit-Gesellschaft funktioniert, aber das liegt nicht nur am dortigen landesweit kostenlosen WLAN und schnellen Datennetzen. Viel entscheidender ist, dass die Gesetze vereinfacht wurden, damit eine Steuererklärung, wie es auch ein deutscher CDU-Politiker schon einmal gefordert hat, auf einen Bierdeckel passt. Europas Aufbruch in die Ära 4.0 braucht eben nicht nur eine neue und bessere Infrastruktur, sondern auch einen Staat, der einerseits vereinfacht, dem die Bürger allerdings auch hemmungslos alle ihre persönlichen Informationen überlassen.
Datenschutz ist im Baltikum zwar kein Fremdwort, aber nur noch ein Torso dessen, was beispielsweise hierzulande an Niveau vorhanden ist. Spätestens an diesem Punkt schlug auch die Begeisterung vieler Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Skepsis um. Denn die digitale Zukunft ist kein Paradies, sondern die befürchtete Realität voller gläserner Menschen.
In Tallinn blieb es deswegen bei einem entschiedenen Appell zum Ausbau der auch in Deutschland bestenfalls lückenhaften Infrastruktur. Aber die damit verbundenen Probleme sitzen tief. Selbstfahrende Autos nutzen nicht nur Informationen, sondern generieren auch Daten. Wer moderne Medizin und schnelle Hilfe möglich machen will, muss gesundheitsbezogene Angaben online abrufbar machen. Das sind nur zwei Beispiele. Doch sie zeigen, dass die EU einerseits und die Mitgliedstaaten andererseits noch viel Vorarbeit zu leisten haben, ehe sie die digitalen Möglichkeiten für eine moderne Verwaltung und neue Dienstleistungen eröffnen können.
Wie schwer das werden wird, dokumentieren die Differenzen zwischen den EU-Ländern, nach welchen Kriterien Online-Konzerne besteuert werden sollen, die ihren Sitz in irgendeiner Steueroase haben, ihre Leistungen jedoch weltweit anbieten. Bisher gibt es Denkmodelle, aber noch nicht einmal die Ansätze eines Weges zu einem fairen Abgabensystem.
Cybersicherheit, Copyright, Spionage des Nutzerverhaltens – die EU steht vor einem Berg an Problemen, die zu lösen sind, bevor das Tor zum digitalen Paradies offensteht. Bis heute begegnet die europäische Öffentlichkeit allen Geschäftsmodellen, die persönliche Daten als Rohstoff brauchen, mit größter Skepsis. Zu Recht, weil es nicht gelungen ist, Missbräuche in den Griff zu bekommen.
Ja, es ist richtig, dass die Union in Tallinn den verstärkten Ausbau der Netze, das kostenfreie WLAN im öffentlichen Raum, eine Mobilfunkabdeckung nach dem Hochgeschwindigkeitsstandard 5G befürwortet hat. Das klingt nicht gerade euphorisch. Genauso ist es auch gemeint. Europa geht nicht in die Offensive, weil man die Hürden auf dem Weg in die Zukunft per Mausklick fürchtet.
Das gilt auch für Deutschland: In Estland schüttelt man den Kopf über den Widerstand hierzulande, Krankheitsbefunde auf einer Gesundheitskarte zu speichern. In Tallinn liegen diese Informationen im Netz. Von so viel binärer Freigiebigkeit sind weite Teile Europas und Deutschland noch weit entfernt. Und das aus gutem Grund.