Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (59)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schade
An einer Wand waren die verschiedensten Möbel und Geräte zusammengeschoben, die wir im Lauf des letzten Jahres ausrangiert hatten – kaputte Tische, alte Kühlschränke, solche Sachen. Aus diesem Verhau hatte Tommy ein zweisitziges Sofa hervorgezerrt, aus dessen schwarzem Kunstlederbezug die Polsterung quoll, und ich erriet, dass er hier gesessen und gezeichnet haben musste, als er mich vorbeigehen hatte sehen. In der Nähe lagen die umgefallenen Gummistiefel, aus denen seine Fußballsocken hervorlugten.
Tommy sprang wieder auf das Sofa und hielt seine große Zehe. „Tut mir Leid, meine Füße stinken ein bisschen. Ich hab die Strümpfe ausgezogen, ohne es zu merken. Jetzt hab ich mich, glaub ich, geschnitten. Kath, möchtest du sie dir ansehen? Ruth hat sie letzte Woche gesehen, und seitdem wollte ich sie auch dir zeigen. Außer Ruth kennt sie noch niemand. Schau sie dir an, Kath.“
Das war das erste Mal, dass ich seine Tiere sah. Als er mir in Norfolk davon erzählt hatte, war ich mir sicher gewesen, dass es sich um verkleinerte Ausgaben der Bilder aus unserer Kindheit handelte. Umso größer war meine Überraschung, als ich jetzt sah, wie dicht und detailliert jede einzelne Zeichnung war. Tatsächlich brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass es Tiere waren. Der erste Eindruck war so, als hätte man die hintere Verkleidung eines Radioapparats abgenommen: Winzige Kanäle, verschlungene Leitungen, Miniaturschrauben und Rädchen waren hier mit geradezu manischer Präzision gezeichnet worden, und erst wenn man das Blatt ein Stück von sich fern hielt, erkannte man, dass es ein Wesen war, ein Gürteltier zum Beispiel oder ein Vogel.
„Das ist mein zweites Heft“, sagte Tommy. „Das erste kriegt auf keinen Fall irgendwer zu sehen! Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich draufgekommen bin, wie es geht.“
Er hatte sich jetzt auf dem Sofa zurückgelehnt, zog eine Socke über seinen Fuß und bemühte sich, beiläufig zu klingen, aber ich wusste, wie begierig er auf meine Reaktion war. Und doch konnte ich ihn nicht rückhaltlos loben. Vielleicht lag es zum Teil daran, dass ich fürchtete, jedes selbst gemachte Kunstwerk könnte ihn wieder in die Bredouille bringen. Andererseits aber waren diese Zeichnungen so anders als alles, was uns die Aufseher in Hailsham beigebracht hatten, dass ich nicht wusste, wie ich sie beurteilen sollte.
„Meine Güte, Tommy, das muss ja wahnsinnig viel Konzentration erfordern. Dass du hier drin überhaupt genug siehst für diese winzigen Einzelheiten!“Und während ich in dem Heft blätterte, vielleicht weil ich immer noch um den passenden Kommentar rang, rutschte mir die Bemerkung heraus: „Ich frag mich, was Madame dazu sagen würde.“
Ich hatte es in scherzhaftem Ton gesagt, und Tommy reagierte mit einem leisen Kichern, aber dann hing etwas wie Verlegenheit in der Luft. Ich blätterte weiter – das Heft war etwa zu einem Viertel voll –, ohne einen Blick auf ihn zu werfen, und wünschte, ich hätte Madame nicht erwähnt. Schließlich hörte ich ihn sagen:
„Ich muss sicher noch sehr viel üben, bevor sie irgendwas davon zu sehen kriegt.“
Ich war mir nicht sicher, ob das ein Wink an mich war, damit ich ihm sagte, wie gut seine Zeichnungen tatsächlich waren – denn inzwischen begannen mich diese phantastischen Geschöpfe regelrecht zu fesseln. Trotz ihrer unruhigen, metallischen Züge war an jedem Einzelnen etwas Sanftes, ja Verletzliches. In Norfolk hatte er erzählt, er überlege sich noch während des Zeichnens, wie sie sich vor Feinden schützten, wie sie in der Lage wären, zu greifen, und als ich sie jetzt betrachtete, bewegten mich merkwürdigerweise ganz ähnliche Gedanken. Trotzdem – aus einem mir unerklärlichen Grund – hielt mich weiterhin irgendetwas davon ab, ihn zu beglückwünschen.
„Aber ich mache diese Tiere ja nicht nur deswegen. Es macht mir wirklich Spaß!“, beteuerte Tommy. „Ich hab mich gefragt, Kath, ob ich’s weiter für mich behalten soll. Ich hab gedacht, es wird wohl nichts schaden, wenn die anderen davon wissen. Schließlich malt Hannah nach wie vor ihre Aquarelle – viel Veteranen machen irgendwas. Ich hab ja nicht vor, diese Zeichnungen jedem unter die Nase zu halten. Aber ich dachte, es gibt eigentlich keinen Grund, warum ich sie weiter geheim halten soll.“
Endlich brachte ich es fertig, aufzuschauen und halbwegs überzeugend zu sagen: „Dafür gibt es auch keinen Grund, Tommy, überhaupt keinen Grund. Die sind gut, deine Zeichnungen. Wirklich sehr, sehr gut. Also wenn du dich deswegen hier drin versteckst, dann ist das völlig überflüssig.“
Er sagte nichts darauf, aber in seinem Gesicht erschien ein Grinsen, als amüsierte er sich insgeheim über einen Witz, und ich wusste, wie glücklich ihn meine Bemerkung gemacht hatte. Ich glaube nicht, dass wir danach noch viel sagten. Ich denke, er zog bald darauf seine Gummistiefel an, und wir verließen gemeinsam den Gänsestall. Wie ich schon sagte – das war das einzige Mal in diesem Frühjahr, dass Tommy und ich auf seine Theorie zu sprechen kamen.
Dann war der Sommer da und mit ihm der Jahrestag unserer Ankunft hier. In einem Minibus traf eine Truppe neuer Kollegiaten ein, nicht anders als wir im Jahr zuvor, aber es war niemand aus Hailsham darunter. In gewisser Weise war das sogar eine Erleichterung: Ich glaube, in der letzten Zeit waren wir zunehmend nervös geworden und hatten befürchtet, eine neue Gruppe aus Hailsham würde alles noch viel komplizierter machen. Aber das Ausbleiben weiterer Hailshamer verstärkte, jedenfalls für mich, das ohnehin schon vorhandene Gefühl, dass Hailsham jetzt weit in der Vergangenheit lag und die Bande, die unsere alte Gruppe zusammen hielten, allmählich brüchig wurden. Es lag nicht nur daran, dass manche, wie Hannah, immer wieder davon redeten, sie wollten Alices Beispiel folgen und mit ihrer Ausbildung anfangen; andere, wie Laura, hatten Partner gefunden, die nicht aus Hailsham kamen, und man konnte beinahe vergessen, dass sie je mehr mit uns zu tun gehabt hatten.
Und dazu kam schließlich, dass Ruth seit neuestem immer wieder so tat, als hätte sie alles Mögliche von Hailsham vergessen. Gut, meist waren es Banalitäten, trotzdem wuchs mein Ärger. Einmal zum Beispiel saßen wir – Ruth, ich und ein paar Veteranen – nach einem ausgedehnten Frühstück um den Küchentisch, einer der Veteranen hatte uns belehrt, dass der Verzehr von Käse spät am Abend für einen unruhigen Schlaf sorge, und ich drehte mich zu Ruth und sagte sinngemäß: „Weißt du noch, das hat uns auch Miss Geraldine oft gesagt?“Es war nur ein ganz beiläufiger Einwurf, und Ruth hätte nur zu lächeln oder zu nicken brauchen. Aber sie starrte mich absichtlich verständnislos an, als hätte sie nicht die leiseste Ahnung, wovon ich sprach.