Donau Zeitung

„Da oben feiern sie und da unten sterben sie“

Nadine Schmid hat 2010 unter dramatisch­en Umständen das Loveparade-Unglück überlebt. Beim jetzigen Prozess ist die Frau aus der Nähe von Donauwörth Nebenkläge­rin und Zeugin. Jahrelang konnte sie das Erlebte halbwegs verdrängen. Bis es einfach nicht mehr g

- VON VIKTOR TURAD

Donauwörth Die Schreie, die Hilferufe, die Panik und die Todesangst, sie sind wieder da, wenn Nadine Schmid ins Erzählen kommt. Die Erinnerung­en wühlen sie immer noch auf und lassen sie beim Sprechen ins Stocken geraten. Trotzdem will die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren ihre Geschichte loswerden. Sie will berichten von dem Tag vor gut sieben Jahren, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Vom Glück, überlebt zu haben.

21 andere Besucher der Loveparade in Duisburg hatten dieses Glück nicht. An sie will Nadine Schmid erinnern. Und: Die gebürtige Nördlinger­in, die heute in der Nähe von Donauwörth lebt, will Gerechtigk­eit. Deshalb ist sie seit Anfang Dezember in Düsseldorf als Nebenkläge­rin an der juristisch­en Aufarbeitu­ng des Unglücks beteiligt. Morgen geht der Prozess weiter; nach derzeitige­m Stand soll die 33-Jährige am 15. Februar als Zeugin aussagen. Dann wird sie dem Gericht erzählen, wie sie jenen 24. Juli 2010 erlebt hat.

Nadine Schmid wohnt damals in Köln. Sie ist zuvor schon drei, vier Mal auf der Loveparade in Berlin gewesen, auch in Dortmund war sie dabei. Nun also Duisburg. Ihre Freundin kommt mit. Es ist Samstag, ein warmer, sonniger Sommertag. Die gelernte Kommunikat­ionsfachfr­au und Wirtschaft­sfachwirti­n freut sich auf das Technomusi­kFestival. Es soll so schön werden wie in Dortmund – wünscht sie sich.

Der Zug ist überfüllt. Trotzdem sind die meisten Fahrgäste gut gelaunt, es geht schließlic­h zur Loveparade. Allerdings: Es ist heiß in der Bahn und es gibt keine Klimaanlag­e. „Das war schon ein komisches Gefühl“, erzählt Nadine Schmid. „Ich habe gedacht, hoffentlic­h sind wir bald da. Und ich war froh, als wir aussteigen konnten.“Wie soll sie ahnen, dass der eigentlich­e Horror erst noch kommen sollte?

Das damalige Festgeländ­e liegt gegenüber des Duisburger Bahnhofs. Gelbe und orangefarb­ene Schilder führen die Besucher am Gelände entlang in engen Gassen zu einem Eingang. „Ich habe gedacht, oh, Duisburg ist aber eng. Das kam mir schon komisch vor.“Als Sicherheit­sleute an einer Absperrung die Menge aufhalten und Taschen kontrollie­ren wollen, beschwert sie sich bei einem der Männer: „Bei diesen tausenden von Leuten können Sie doch keine Kontrollen machen!“Sie erhält die lapidare Antwort: „Doch, das müssen wir.“Die Menge murrt und Nadine Schmid erinnert sich: „Mir war nicht wohl dabei.“

Plötzlich ist das Kommando „3, 2, 1“zu hören. Die Menge stürmt die Absperrung. „Ich bin mitgerannt“, erzählt Nadine Schmid, „sonst wären wir überrannt worden.“Die Security muss machtlos zusehen. Wenigstens haben die Besucher nun wieder mehr Bewegungsf­reiheit. Die Anspannung löst sich. Durch einen Tunnel geht es auf eine Rampe. Dort kann man schon die Musik vom Festgeländ­e hören. Legt jetzt nicht gleich der LieblingsD­J auf?

Auf der Rampe allerdings stoppt ein Bauzaun die Menge. Er ist mit einer dicken Eisenkette gesichert. Es wird eng, immer enger. Die Kette muss weg. Aber das gelingt nicht, weder Nadine Schmid, der zierlichen, 1,65 Meter großen Frau, noch einem kräftigen Mann. Ein Durchkomme­n ist unmöglich, und von der Security oder der Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. So hört niemand, dass die jungen Leute rufen: „Hallo, wir wollen hier durch!“und: „Können Sie endlich öffnen, wir wollen zur Party!“Und niemand sieht, dass von hinten immer mehr Menschen nachdränge­n.

Nadine Schmid gerät in Panik. Sie spürt keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Sie merkt, wie an ihrem Rock gezogen wird, an ihrem T-Shirt. „Egal“, sagt sie sich, „Hauptsache, ich komme hier lebend raus!“Sie sieht eine Frau, mit der sie zuvor öfter Blickkonta­kt gehabt hat, nach unten sinken und in der Masse verschwind­en. Vermutlich ist die Frau in diesem Moment gestorben, denkt sie sich später.

Nadine Schmid hat sich an die Hand ihrer Freundin geklammert. Doch nun werden die beiden Frauen auseinande­rgerissen. Sie verlieren sich aus den Augen. „Da ging es nur noch im Einzelkamp­f ums Überleben.“Sie spürt ein Knie und Beine in ihrem Bauch, hat einen Ellenbogen an ihrem Hals, fürchtet, dass sie keine Luft mehr bekommt. Sie spürt immer mehr fremde Körper um sich herum. Sie schreit, hört viele Schreie, kippt mal nach rechts, mal nach links. Für kurze Zeit wird sie mit dem Gesicht gegen den Bauzaun gedrückt. Einmal schafft sie es, sich umzudrehen und zurück zum Tunnel zu schauen, aus dem sie gekommen sind. Sie sieht tausende von Köpfen und denkt: „Oh Gott, sind das viele Menschen!“

Sie weiß aber auch: Jetzt ist es wirklich ernst. Es geht ums Überleben. In Todesangst ruft sie um Hilfe. Währenddes­sen hört die Frau Musik, die Bässe wummern, Menschen jubeln und tanzen – und ahnen offensicht­lich nicht, welch schrecklic­he Tragödie sich gerade in ihrer unmittelba­ren Nähe abspielt.

Heute weiß man: Damals drängen aus zwei Tunneln Zehntausen­de zum Festivalge­lände. Andere kommen ihnen entgegen, weil sie das Techno-Fest schon wieder verlassen wollen. Immer dichter gedrängt stehen die Menschen auf der Zugangsram­pe, was zu einem fatalen Stau in diesem Nadelöhr führt.

Gut eineinhalb Stunden sind die Frauen und Männer eingezwäng­t. Irgendwann drängen alle in Richtung einer Treppe. Aber es geht nicht voran. Nadine Schmid sieht einen Mann, der auf der Treppe stehen bleibt. Ein anderer ruft: „Frauen und Kinder zuerst!“Nadine Schmid schafft es, sich bemerkbar zu machen. Der Mann zieht sie nach oben. Sie ist gerettet.

Obwohl sie starke Schmerzen hat, besorgt sie sich Wasser in Plastikfla­schen und schüttet es zur Erfrischun­g in die Menschenme­nge, dort auf der Rampe, wo viele um ihr Leben kämpfen. Sie will jetzt nicht zu den Sanitätern, sie will helfen. Ihr rotes T-Shirt ist lädiert, ihre Stiefel sind zerfetzt, sie kann in ihnen gerade noch so weiterlauf­en. Die Schminke im Gesicht ist verschmier­t. Leute kommen ihr entgegen und rufen: „Hey, lach doch mal!“Nadine Schmid schaut auf die Rampe hinunter. Es gibt keinen Grund mehr zu lachen.

Später denkt sie: „Da oben feiern sie und da unten sterben sie.“Dass es wirklich Tote gegeben hat, ahnt sie, als Sanitäter am Boden liegende Menschen mit Planen zudecken. „Verdammt, ich glaube, die sind wirklich gestorben“, schießt es ihr durch den Kopf. Erst ist von zehn Toten die Rede, später von 15 und 18. Am Ende sind es 21.

Nadine Schmid setzt sich irgendwann hin und weint nur noch. Sie ruft ihre Schwester an. Aber die Verbindung ist schlecht, es ist laut und ständig sind Martinshör­ner zu hören. Zum Glück taucht die verloren gegangene Freundin wieder auf. Die beiden Frauen nehmen sich in die Arme und weinen.

Um herauszuko­mmen, müssen sie durch den Tunnel zurück. Aber sie trauen sich nicht. Lieber bleiben sie auf dem Festgeländ­e. Bis sie die Letzten sind. Denn die Party geht ja weiter, trotz der schrecklic­hen Ereignisse auf der Rampe. Immer noch wird getanzt, niemand bricht die Loveparade ab.

Erst als fast alle weg sind, machen sich die beiden Frauen am späten Abend auf den Weg. Sie müssen wieder durch einen Tunnel und haben Angst. Sie schauen nach links, nach rechts, immer wieder, vergewisse­rn sich, dass sie nicht mehr eingepferc­ht sind. Ein anderer Besucher packt sie in sein Auto und nimmt sie mit nach Köln.

Nach ein, zwei Wochen sind die körperlich­en Schmerzen weg. Aber die Frauen trauen sich nicht mehr aus der Wohnung. Nadine Schmid beschließt, nach Bayern zurückzuke­hren. Sie zieht in die Nähe von Donauwörth und findet neue Arbeit. Fünf Jahre lang geht sie ihr nach. Sie versucht, ihr Leben weiterzule­ben und die schlimmen Erlebnisse zu verdrängen.

Dann schlägt das zu, was man in der Medizin posttrauma­tische Belastungs­störung nennt. Panikattac­ken plagen die junge Frau, sie hat Angstzustä­nde, kann keine Musik mehr hören, hat Schlafprob­leme. Sie träumt von den Toten der Loveparade. Seit zwei Jahren ist Nadine Schmid krankgesch­rieben. Sie hat Platzangst, geht immer noch auf keine Party, steigt in keine übervolle Straßenbah­n und meidet Menschenan­sammlungen.

Eine Traumather­apie hat ihr Linderung verschafft. „Heute geht es

Schon im Zug hatte sie „ein komisches Gefühl“

Mehrere Betroffene haben ihre Klagen zurückgezo­gen

mir besser“, sagt Nadine Schmid. Jetzt will sie den Prozess hinter sich bringen. Sie ist an der Seite ihres Rechtsanwa­lts Manuel Reiger nicht nur Nebenkläge­rin, sondern auch Zeugin. Vor Gericht wird sie noch einmal all die Fragen beantworte­n müssen, all die Szenen noch einmal durchleben, stockend von ihren Emotionen erzählen. Mehrere Betroffene wollen sich das nicht antun und haben ihre Nebenklage­n zurückgezo­gen. Überwiegen­d Opfer, die wie Nadine Schmid das Unglück verletzt überlebt haben, aber nun eine neue psychische Belastung durch den Prozess fürchteten.

Nadine Schmid will sich ihr stellen. Sie will aussagen in der Hoffnung, dann mit dem Geschehene­n abschließe­n zu können. Sie will ja wieder arbeiten gehen.

Das Gericht muss sich sputen. Bis zum 27. Juli 2020 muss es in dem Mammutproz­ess ein Urteil geben. Sonst verjähren die Straftaten. Der 27. Juli also. An diesem Datum ist 2010 das 21. Opfer gestorben.

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Foto: Lukas Schulze, Getty Images Duisburg im Winter: Dort, wo vor gut sieben Jahren 21 Besucher der Loveparade in der Menschenme­nge erdrückt wurden, steht heute ein Denkmal.
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Foto: Viktor Turad Sie will an die Toten erinnern. Und sie will Gerechtigk­eit. Deshalb ist Nadine Schmid, hier mit ihrem Anwalt Manuel Reiger, Nebenkläge­rin im Prozess.

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