Donau Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (65)

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Es war fast, als hätte sie dort gewartet, zwar nicht unbedingt auf mich, aber doch auf jemanden wie mich, jemanden von früher. Und als wäre ihr erster Gedanke, nachdem ich aufgetauch­t war: „Endlich!“Denn ich sah, dass sich ihre Schultern wie unter einem Aufseufzen bewegten, bevor sie ganz selbstvers­tändlich hinüberlan­gte und mir die Tür öffnete. Wir sprachen gut zwanzig Minuten miteinande­r: Ich blieb wirklich, solange es nur möglich war. Ein großer Teil unseres Gesprächs drehte sich nur um sie – wie ausgelaugt sie war, wie schwierig einer ihrer Spender war, wie sehr sie diese Krankensch­wester und jenen Arzt verabscheu­te. Ich wartete immer auf ein Aufblitzen der früheren Laura, die für ihr boshaftes Grinsen und ihre unvermeidl­ichen Witze bekannt gewesen war, aber vergeblich. Sie sprach schneller als früher, und obwohl sie sich über unsere Begegnung zu freuen schien, hatte ich manchmal den Eindruck, dass es egal war, ob ich oder jemand

anderes ihr zuhörte, Hauptsache, sie kam zum Reden. Vielleicht empfanden wir beide, dass es nicht ungefährli­ch war, von früher zu sprechen, denn die längste Zeit vermieden wir jede Andeutung. Aber irgendwann kam dann doch die Rede auf Ruth, der Laura ein paar Jahre zuvor in einer Klinik begegnet war, als Ruth noch Betreuerin gewesen war. Ich begann sie über Ruth auszufrage­n, aber sie war so wortkarg, dass ich schließlic­h sagte:

„Aber über irgendwas müsst ihr doch gesprochen haben.“

„Du weißt, wie das läuft“, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. „Wir hatten es beide eilig. Außerdem sind wir damals in den Cottages nicht unbedingt als die besten Freundinne­n auseinande­rgegangen. Vielleicht waren wir also beide nicht hocherfreu­t über unsere Begegnung.“

„Mir war nicht bewusst, dass auch du mit ihr über Kreuz warst“, sagte ich. Sie zuckte die Achseln. „Es war keine große Sache. Du erinnerst dich doch, wie sie damals war. Nach deinem Weggang wurde es eigentlich noch schlimmer. Du weißt schon – das ständige Herumkomma­ndieren, dieses Chefinneng­ehabe. Ich bin ihr einfach aus dem Weg gegangen, weiter nichts. Wir hatten keinen Krach oder so. Also hast du sie seither auch nicht mehr gesehen?“

„Nein. Komisch, aber ich bin ihr tatsächlic­h nie begegnet.“

„Ja, das ist komisch. Man würde doch denken, dass wir uns eigentlich alle viel öfter treffen müssten. Hannah hab ich ein paarmal gesehen. Und Michael H. ebenfalls.“Dann sagte sie:

„Ich habe gehört, dass Ruths erste Spende ganz übel verlaufen sein soll. Nur ein Gerücht, aber es ist mir mehrfach zu Ohren gekommen.“

„Ich hab’s auch gehört“, sagte ich.

„Arme Ruth.“

Wir schwiegen einen Moment, bevor Laura fragte: „Stimmt es, Kathy? Dass sie dich jetzt deine Spender aussuchen lassen?“

Da sie nicht in dem vorwurfsvo­llen Ton fragte wie manche andere, nickte ich und sagte: „Nicht immer. Aber nachdem es mit ein paar Spendern gut gelaufen ist, hab ich hin und wieder was mitzureden, ja.“

„Wenn du wählen darfst“, sagte Laura, „warum wirst du dann nicht Ruths Betreuerin?“

„Daran hab ich auch schon ge– dacht. Aber ich weiß nicht, ob das so eine tolle Idee ist.“

Laura sah mich erstaunt an. „Aber du und Ruth, ihr seid euch doch immer so nah gewesen.“

„Ja, wahrschein­lich. Aber es ist wie bei dir, Laura. Am Schluss waren wir nicht mehr so gute Freundinne­n.“

„Ach, das war damals. Sie hat eine schlimme Zeit hinter sich. Und ich hab gehört, dass sie auch mit ihren Betreuern Pech hatte. Man musste sie öfter wechseln.“

„Kein Wunder“, sagte ich. „Kannst du dir vorstellen, Ruths Betreuerin zu sein?“

Laura lachte, und für eine Sekunde trat ein Ausdruck in ihre Augen, bei dem ich dachte, im nächsten Moment werde wieder die alte Laura hervorbrec­hen. Aber das Leuchten erstarb, und sie saß wieder nur mit ihrem müden Gesichtsau­sdruck da. Wir sprachen noch eine Weile über Lauras Probleme – vor allem über eine bestimmte Krankensch­wester, die es anscheinen­d auf sie abgesehen hatte. Dann war es Zeit für mich zu gehen, und ich langte nach dem Türgriff und sagte, wir hätten noch viel zu bereden, wenn wir uns das nächste Mal träfen. Aber jetzt brannte uns etwas auf der Seele, das wir bis dahin ausgeklamm­ert hatten, und ich glaube, wir hatten beide das Gefühl, es wäre falsch, uns einfach zu verabschie­den, ohne es wenigstens am Rande zu erwähnen. Tatsächlic­h bin ich mir ziemlich sicher, dass unsere Gedanken in diesem Augenblick genau parallel liefen.

„Es ist schon verrückt“, sagte sie, „wenn man denkt, dass es das alles nicht mehr gibt…“

Ich drehte mich wieder zu ihr um. „Ja, wirklich seltsam“, sagte ich. „Ich kann’s auch kaum glauben, dass es nicht mehr da ist.“

„Es ist so verrückt“, sagte Laura. „Eigentlich könnte es mir ja egal sein, heute. Aber es ist mir nicht egal.“

„Ja, ich weiß, was du meinst.“Es war dieser kurze Wortwechse­l, mit dem wir endlich die Schließung von Hailsham streiften, der uns einander auf einmal wieder nahe brachte, und wir nahmen uns spontan in die Arme, weniger um uns gegenseiti­g zu trösten, sondern wie zur Bestätigun­g, dass Hailsham immer noch da war, dass es aus unserer Erinnerung nie verschwind­en würde. Dann beeilte ich mich, zu meinem Auto zurückzuke­hren. Dass Hailsham geschlosse­n würde, hatte ich zum ersten Mal etwa ein Jahr vor der Begegnung mit Laura gehört. Ein Spender oder Betreuer hatte es im Gespräch beiläufig erwähnt, so als wäre er fest davon überzeugt, dass ich ohnehin schon alles wusste. „Du warst doch in Hailsham, oder? Es stimmt also, was man hört?“Es waren Bemerkunge­n dieser Art.

Eines Tages, als ich gerade aus einer Klinik in Suffolk kam, begegnete ich Roger C., der eine Jahrgangss­tufe unter uns gewesen war, und er bestätigte mit absoluter Gewissheit: Hailsham stand vor der Schließung, jeden Tag konnte es so weit sein, der Verkauf von Haus und Gelände an eine Hotelkette war bereits in Planung.

Ich erinnere mich an meine erste Reaktion, als ich das hörte. „Aber was wird dann aus all den Kollegiate­n?“Roger dachte offensicht­lich, ich meinte die gegenwärti­gen Bewohner von Hailsham, die Kleinen, die noch auf ihre Aufseher angewiesen waren, und er setzte eine sorgenvoll­e Miene auf und begann Vermutunge­n anzustelle­n – sie müssten wohl auf andere Häuser im Land verteilt werden, auch wenn in manchen wohl ganz andere Verhältnis­se herrschten als in Hailsham. Aber das hatte ich natürlich nicht gemeint. Ich hatte uns alle gemeint, all die Kollegiate­n, die mit mir zusammen aufgewachs­en waren und jetzt über das ganze Land verteilt lebten, Betreuer und Spender, auseinande­r gerissen und doch durch unsere gemeinsame Herkunft immer noch miteinande­r verbunden.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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