Der Müll macht die Russen krank
Unweit von Moskau liegt eine der größten Deponien Russlands. Die Luft ist so verpestet, dass Kinder ins Krankenhaus müssen, andere leiden an Infektionen. Doch das will keiner hören
Wolokolamsk Eine Maske muss sein. Alexander Lwow kramt in seinem Auto, zieht den weißen Atemschutz über die Nase und steigt aus. Die Luft ist schneidend, die Augen brennen, die Hände jucken. Jadrowo steht auf einem Schild vor ihm. Es ist eine Mülldeponie, die den Menschen hier, nur drei Kilometer von der Stadt Wolokolamsk, eineinhalb Autofahrstunden von Moskau entfernt, mit den austretenden Gasen das Leben schwer macht.
Manche fallen einfach auf der Straße um, Bewusstlosigkeit. Andere husten, als hätten sie eine schwere Form von Bronchitis. Als unlängst knapp 150 Kinder gleichzeitig wegen Unwohlseins in das Zentrale Bezirkskrankenhaus der Stadt eingeliefert worden waren, reichte es auch Alexander Lwow. „Wir ertragen alles, die schlechte Infrastruktur, die schlechte Bildung, die nicht vorhandene politische Freiheit bei uns im Land, aber wie sollen wir leben, wenn uns die Luft zum Atmen fehlt?“
Der 25-jährige Taxiunternehmer kommt nun oft zur Deponie. Auch sein vierjähriger Sohn leidet an tiefrotem Ausschlag, der Knie und Hände bedeckt. Der Junge kratzt sich die Wunden bis auf das Fleisch auf, schreit, erbricht. Die Ärzte diagnostizieren: Infektion der oberen Atemwege. Den vermehrten Gasaustritt auf der Mülldeponie erwähnen die Mediziner lediglich in persönlichen Gesprächen als Grund für gesundheitlichen Probleme, auf amtlichen Dokumenten bestätigen sie das nicht. Niemand informiert die Menschen über die Gase. Die Wolokolamsker fühlen sich von den Behörden alleingelassen – und gehen auf die Straße.
Sie wollen zeigen: „Wir haben es satt, wir wollen leben.“Das ist ihr Motto der täglichen Klein-Proteste für die Schließung der Deponie, die mittlerweile so hoch ist wie ein zehnstöckiges Haus. Nicht selten kippen an einem Tag bis zu 300 voll beladene Lastwagen ihre Fracht auf den zehn Hektar von Jadrowo aus. Was sie bringen, wissen die Menschen nicht. Das Mülldeponie-Unternehmen teilt es ihnen nicht mit. Die Bezirksregierung bleibt ebenfalls stumm. Die Wolokolamsker riechen nur, wie die Deponie lebt. Wie die Mikroorganismen sich mit den Bakterien vermischen, wie die daraus entstehenden Gase entweichen: Methan, Kohlenstoffdioxid, Schwefelwasserstoff. Die 20 000-Einwohner-Stadt ist in Aufruhr. „Wir sind nun alle Aktivisten“, sagen sie vor Jadrowo wie aus einem Mund.
Politischen Protest gibt es kaum noch im System Putin. Oppositionelle haben es schwer, Kritik am Regime zu üben. Das Vertrauen in die Institutionen fehlt. Wird die Ohnmacht vor dem Apparat aber groß, wachsen die sozialen Spannungen im Land und lassen die hohen Zustimmungswerte für den alten wie neuen Präsidenten hohl erscheinen.
In Wolokolamsk fordern sie die Schließung der Deponie, in der westsibirischen Stadt Kemerowo, wo Ende März viele Kinder beim Brand in einem Einkaufszentrum starben, die Aufklärung des Falles. Sie kommen plötzlich in Massen zusammen und begreifen, dass sie die Wut auf das System eint. Manchmal geben ihnen die Behörden das Gefühl, sie zu erhören. Die Mülldeponie Jadrowo soll in einigen Wochen tatsächlich schließen. Nur: Wenige Meter weiter, noch näher an die Stadt heran, öffnet schon vorher eine neue Deponie. Doppelt so groß.
Es ist die typische russische Symptombekämpfung, die Verwaltung improvisiert ohne Strategie. Jadrowo besteht seit 1979, doch erst vor einem Jahr, als die 50 Hektar große Mülldeponie Kutschino im Osten Moskaus auf Erlass Putins medienwirksam schließen musste, wurde sie zu einem Problem für die Wolokolamsker. Der Müll, der einst auf Kutschino landete, wird nun auf andere Deponien im Moskauer Umland verteilt.
70 Tonnen Müll produzieren die Russen jährlich. 90 Prozent davon landen auf den 14000 Müllkippen im Land. „Erst nach und nach verdie stehen viele, dass wir viel zu viel Müll produzieren“, sagt der Greenpeace-Umweltgift-Experte Alexej Kisseljow in seinem Moskauer Büro. Bereit, wirklich etwas Wesentliches zu ändern, seien aber nur wenige. Lediglich vier Prozent des russischen Abfalls werden recycelt. Mülltrennung gibt es nur vereinzelt, Flaschen, Windeln, Essensreste landen auf einem Haufen – und später auf Deponien wie Jadrowo, wo Bagger Erde auf den Abfall schütten und Traktoren die Mischung feststampfen.
Um den mafiösen Strukturen der Müllbranche Herr zu werden, regelt seit 1998 das „Gesetz Nummer 89“die Aufsicht über die Deponien. Es schafft jedoch keine Grundlage für die wirtschaftlichen Anreize, um die Müllmasse zu verkleinern. Vor knapp vier Jahren passte das Parlament das Gesetz an. Weg von den Müllkippen lautet der Ansatz. „Dennoch wachsen die Müllberge jedes Jahr um drei Prozent“, sagt Alexej Kisseljow. Die Lösung? „Das Bewusstsein der Menschen muss sich ändern. Wir müssen durch den schmerzhaften Prozess der Mülltrennung hindurch. Es muss reguliert werden, was, wie und womit verpackt werden darf“, sagt der Greenpeace-Experte.
In Wolokolamsk redet niemand über gelbe oder grüne Tonnen. Sie wollen einfach wieder atmen – und sich später Gedanken darüber machen, die Plastikberge, die sich in Russland nach jedem Einkauf auftun, zu reduzieren. Vielleicht.
„Wir ertragen alles. Aber wie sollen wir leben, wenn uns die Luft zum Atmen fehlt?“Alexander Lwow