Der Krieg ist eine Schicht-Torte
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler erklärt, wie kleine Konflikte zum Dreißigjährigen Krieg mutierten – und was wir daraus für die Syrien-Frage lernen können
Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg – Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 – 1648 Rowohlt, 976 Seiten, 39,95 Euro
Herr Münkler, 400 Jahre liegt der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges zurück – was ist uns davon geblieben, außer ein paar Kanonenkugeln und den Knochen verscharrter Soldaten?
Herfried Münkler: Direkte Linien dorthin gibt es nicht mehr. Wir sind keine wesentlich agrarische Gesellschaft mehr, wir haben auch keine ernst zu nehmenden konfessionellen Konfliktlinien innerhalb des Christentums mehr, es gibt keinen Kaiser und keine Kurfürsten mehr. Aber: Ende des 19. Jahrhunderts war der Dreißigjährige Krieg, vor allem unter dem Eindruck von Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“– einem Buch, das in jedem bürgerlichen Haushalt stand –noch einmal sehr präsent. Das hat dazu geführt, dass der Große Generalstab in Berlin zu dem Ergebnis kam, dass, wenn wieder ein europäischer Krieg stattfinden würde, er unter keinen Umständen auf deutschem Territorium ausgetragen werden sollte. Man kann sagen, der Schlieffen-Plan war eine Folge des Traumas Dreißigjähriger Krieg. Die Deutschen haben geglaubt, sie hätten gelernt. Sie haben sicher gelernt, aber nicht unbedingt das Richtige.
Nach den Umbrüchen des 16. Jahrhunderts, nicht zuletzt der Reformation – war der Krieg unvermeidbar? Münkler: Das ist eine der zentralen Fragen. Schiller hat, als er seine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges als Historiker geschrieben hat, mit dem Jahr 1517 angefangen, und von da zieht er eine Linie durch. Ricarda Huch, von der das zweite große Buch zu diesem Krieg stammt, erzählt eine Reihe von Episoden vor Kriegsausbruch – und auf einmal ist Krieg –, dabei ist eigentlich gar nichts Einschneidendes passiert. Das sind im Prinzip die zwei extremen Möglichkeiten. Schaut man von heute darauf zurück, muss man sagen: Ja, es gab eine Fülle von Konfliktpotenzialen, aber der Augsburger Religionsfriede hätte auch halten können. Die Reichsinstitutionen hätten bei einer etwas glücklicheren Politik nicht lahmgelegt werden müssen, und auch der Konflikt um Böhmen, mit dem alles begann, hätte nicht als Krieg ausgetragen werden müssen.
Der Prager Fenstersturz lieferte nur den willkommenen Anlass loszuschlagen? Münkler: Zwei Statthalter des habsburgischen Königs Ferdinand sind zwar aus dem Fenster geworfen worden, aber sie waren ja nicht tot. Also man hätte seitens der Wiener Hofkanzlei auch sagen können, wir werden jetzt mit den Böhmen verhandeln. Und wenn Spanien, der andere Zweig des Hauses Habsburg, Ferdinand, der 1619 dann zum Kaiser gewählt wurde, nicht Geld und Soldaten zur Verfügung gestellt hätte, dann wäre er gar nicht kriegsführungsfähig gewesen. Oder: Wenn die Türken nicht an der persischen Front beschäftigt gewesen wären, sondern im Balkan Druck gemacht hätten, dann hätte der Kaiser andere Probleme gehabt, als den Verfassungskonflikt und den Konfessionskonflikt mit den Böhmen so auszufechten, wie er es getan hat.
Heißt: Ein jahrzehntelanger Konflikt mit Millionen Toten wäre auch vermeidbar gewesen?
Münkler: Es gibt eine Reihe von Weichenstellungen, bei denen die Geschichte in eine andere Richtung hätte gehen können. Nur weil Konfliktpotenzial da war, musste dies nicht in diesem Krieg enden. Es gab eine gewisse Wahrscheinlichkeit, aber keinen Zwang. Es hätte auch anders gehen können.
Hat die Zersplitterung Deutschlands – viele Herrschaftsgebiete, viele verschiedene Interessen – dazu geführt, dass der Krieg, einmal ausgebrochen, kaum mehr zu bändigen war? Münkler: Die Wahrscheinlichkeit, dass in Deutschland ein Konflikt zu einem Krieg wird, ist aufgrund der Flickenteppichsituation immer gegeben gewesen. Aber wenn es ein kleiner Krieg gewesen wäre, mit ein paar tausend Soldaten und ein paar hundert Toten auf irgendeinem Schlachtfeld, dann würden wir heute nicht mehr darüber reden. Entscheidend war, dass erstens die geografische Lage Deutschlands in der Mitte Europas mitsamt einer offenen Kriegsökonomie dazu führte, dass der Krieg nicht nach drei, vier, fünf Jahren mangels verfügbarer Ressourcen ausgebrannt war, sondern permanent von außen Geld, Soldaten und Waffen hereinkamen.
Diese Vielzahl der Akteure macht es uns heute auch so schwer, den Überblick zu behalten, wer da gegen wen kämpft … Münkler: Es kommt hinzu, dass sich ein Verfassungskonflikt, nämlich zunächst einmal der Streit: „Wer hat in Böhmen das Sagen, die Stände und die Städte oder der habsburgische König?“, mit einem Konfessionskonflikt vermischt. Nämlich: „Aufrechterhaltung der böhmischen Verfassung mit einer sehr starken Stellung der unierten Brüder, der Lutheraner und der Reformierten oder Durchsetzung der Gegenreformation?“Und dann kommt hinzu, dass Ferdinand, um sich der Unterstützung durch Herzog Maximilian von Bayern zu versichern, diesem zusagt, die Kurwürde von dem Heidelberger Wittelsbacher auf den Münchener Wittelsbacher, also auf ihn, zu übertragen, wenn er seine leistungsfähige Armee gegen die Böhmen marschieren lässt. Das war schon im Ansatz eine Ausweitung des Konflikts, die es unmöglich machte, dass dieser Krieg mit der Schlacht am Weißen Berg zu Ende war.
Weil es dann auch noch um die Verteilung von Besitz geht?
Münkler: Der Krieg wird als Eroberungskrieg weitergeführt. Maximilian will dann auch die Oberpfalz für sich haben, die bei den Heidelbergern war. Dann geht der Krieg in die Rheinpfalz, und damit kommen die Unterstützer des Pfälzers, die Holländer und die Engländer, ins Spiel – und schon ist es ein internationalisierter Konflikt. Dann haben Sie diese Schicht-Torte: Verfassungskonflikt, Konfessionskonflikt, Grenzverschiebungskonflikt, Hegemonialkonflikt. Das Zusammenwirken dieser vier Kriege, die aufeinanderliegen, führt dazu, dass, wenn der eine beendbar ist, die anderen weiter bestehen und der Krieg weitergeht.
In den Krieg sind irgendwann quasi alle Großmächte involviert. Gekämpft wird aber hauptsächlich auf deutschem Territorium. Macht das den Dreißigjährigen Krieg zum deutschen Krieg? Münkler: Es ist ein europäischer Krieg, aber ein deutsches Trauma. Nicht in absoluten Zahlen, aber in Relation zur Gesamtbevölkerung war der Dreißigjährige Krieg viel verlustreicher, hatte höhere Todesraten als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammengenommen. Wenn man davon ausgeht, dass auf diesem Territorium bei Beginn des Krieges 16 Millionen Menschen gelebt haben, war am Schluss wohl ein Drittel weniger da. Daran sieht man, welche furchtbaren Spuren dieser Krieg gerade in Deutschland hinterlassen hat.
Und das, obwohl das Kämpfen noch in weiten Teilen ein Kampf Mann gegen Mann ist, ohne moderne Waffen … Münkler: Die Spuren dieses Krieges resultierten nicht aus der Kriegsgewalt allein, also Schlacht hier, Belagerung da, sondern die Kriegsgewalt verband sich mit Hungersnöten, Teuerung, Seuchen, Epidemien. Die beschleunigte Verbreitung von Krankheiten durch die Bewegung der Heere, die gewissermaßen große Seuchenmaschinen sind. Aber die Seuchen verbreiteten sich auch – das ist etwas, das erst im Zweiten Weltkrieg in dieser Intensität wieder auftrat – durch gewaltige Flüchtlingsbewegungen: Ein Zehntel oder mehr der böhmischen Bevölkerung verlässt nach der Niederlage der Stände und der Städte Böh- men, weil sie eine andere Konfession annehmen mussten und das nicht tun wollten.
Woher kamen die besondere Grausamkeit und die lange Dauer?
Münkler: Grausamkeit hat sicher auch etwas mit der Intensivierung von Feindschaft über den konfessionellen Gegensatz zu tun. Die Antwort auf die Frage: „Ist es ein lutheranisches Dorf, ist es ein katholisches Dorf?“kann als Lizenz zum Plündern dienen. Dann kommt hinzu, dass die Ressourcen, die von den Soldaten abgeschöpft wurden, um sich zu ernähren, immer knapper wurden. Bei den Soldaten bleibt der Hunger aber gleich. Verbunden ist das mit der Vermutung: Die Bauern verheimlichen uns, was sie noch haben. Und dann fangen sie an mit Schwedentrunk, mit der berühmten Ziege, die mit Salz eingeriebene Fußsohlen ableckt, oder Leute werden über Feuer gehängt, bis sie verraten, was tatsächlich noch da ist, oder sie werden totgeschlagen, wenn sie nichts mehr zu verraten haben.
Aber so viele Jahre Krieg machen wohl auch etwas mit den Menschen … Münkler: Je länger der Krieg dauert, desto mehr verrohen die Soldaten. Irgendwann haben wir es dann mit Leuten zu tun, die sich gar nicht mehr erinnern können, dass es mal Friedenszeiten mit Konventionen des Umgangs miteinander gab. Im Prinzip sind Bauern für sie Freiwild. Die Reiter kommen vorbei und vergewaltigen die Frauen, töten die Kinder, und die Männer pressen sie aus bis aufs Blut, bis sie ihre Schätze und das bisschen Essen, das sie noch haben, herausgeben. Dann reiten sie weiter. Die Bauern reagieren, stellen den Soldaten Hinterhalte und töten sie. Und dann kommt wieder die Revanche ...