Die Rolle der Gänse
Tiere machen gelegentlich Geschichte. Hier soll es hauptsächlich, aber nicht nur, um Gänse gehen. Eine frühe Gänsegeschichte spielt im alten Rom, das 387 vor Christus von den Galliern attackiert wurde. Die Gänse auf dem Kapitol, so der Historiker Livius, rissen mit ihrem Geschnatter die Römer aus dem Schlaf, sodass sie sich verteidigen konnten. Weniger im Dunkel der Vergangenheit hatte die Graugans Martina ihren Auftritt. Sie rettete die Reputation eines politisch angeschlagenen Wissenschaftlers.
Der Wiener Konrad Lorenz hat- te sich schon 1938, kurz nachdem Österreich „heim ins Reich“kam, den Nazis als ideologisch passender Forscher angedient. Er forderte frei nach Darwin das Überleben des Stärksten auch für den Menschen. Die zivilisatorische „Verweichlichung“der Gattung Homo nannte er „Verhausschweinung“. Er hielt es wohl eher mit den Wildschweinen.
Nach diesem Sündenfall fand er sein Glück bei den Graugänsen. Martina, die gerade geschlüpft war und ihn mit treuen Augen anblickte, spielte die Hauptrolle. Er zog das Tierchen auf und die beiden wurden, so erzählte Lorenz seinen Studenten, Freunde fürs Leben.
Konrad Lorenz wurde eine Berühmtheit. Seine intimen Beobachtungen der Graugänse machten ihn zum Pionier der Verhaltensforschung. So erkannte er, dass frühe Prägung das Verhalten von Tieren wesentlich bestimmte. Graugans Martina, die ihm nicht von der Seite wich, war das lebende watschelnde und schnatternde Beispiel dafür.
Als Mitbegründer dieses wichtigen Zweiges der biologischen Wissenschaft ereilte den Professor schließlich die höchste Forscher-Ehre. 1973 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Allerdings musste er sich den Preis mit zwei weiteren Tierfreunden teilen: mit dem Holländer Nikolaas Tinbergen, der in Oxford lehrte, und mit dem Wiener Karl von Frisch, der in München lehrte. Tinbergen hat das Leben und Verhalten von Wespen erforscht, Karl von Frisch hat sich den Bienen wissenschaftlich genähert.
Die Bedeutung der Wespen und Bienen für das Gleichgewicht der Natur ist vielen wieder klar geworden, seit sie massenhaft sterben. Der Nobelpreis für Lorenz hat ein aktuelles Echo anderer Art: Die Verleihung an den einstigen NaziIdeologen wurde damals durchaus als Skandal empfunden. Das zeigt: Nobel-Skandale sind keine Erfindung dieser Tage.