„Silentium – jetz schwätz i!“
Nicht einmal jedes dritte Kind in Bayern spricht noch Dialekt. Die Mundart schwindet dahin, vor allem in den Städten. Gleichzeitig boomen Hochdeutsch-Kurse. Über eine Allgäuerin, die einen Schatz hütet, und einen stinksauren Niederbayern
Bad Hindelang Bad Hindelang liegt idyllisch unterhalb des Imberger Horns im Oberallgäu. Fährt man in das Tal hinein, umgibt einen eine sanfte Ruhe. Die endet abrupt, sobald man die Theatergruppe der Offenen Ganztagsschule besucht. Hier ist der Teufel los. Die Schüler quatschen durcheinander. Unruhig wippen sie auf ihren blauen Stühlen. Man versteht sein eigenes Wort kaum noch. Es geht um die Rollenverteilung ihres nächsten Theaterstückes. „Des isch üsgmacht, i bi d’Nochbürin“, ruft Emma mit der frechen Brille in den Raum. Dominik fuchtelt wild mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Dann kann es der Blondschopf aber doch nicht abwarten und ruft einfach rein: „I brüch no an Lehrling.“Es geht drunter und drüber.
„Silentium – jetz schwätz i!“, rufen Paula, Marie und Leo gleichzeitig. Stille. Für den Bruchteil einer Sekunde. Dann prusten alle los.
Der Satz stammt von der vergangenen Aufführung, aus der Bürgermeister-Rolle. Er zeigt die Besonderheit dieses Schultheaters. Alle Dialoge sind in Mundart, genauer gesagt im Ostrachtaler Dialekt. Mundart-Dichterin Cornelia Beßler bringt schon seit acht Jahren mit ihren Schülern selbst geschriebene Theaterstücke auf die Bühne.
Zum Dialekt-Training gehören auch Gedichte und Lieder. Der zehnjährige Leo weiß spontan eines auswendig und gibt damit einen Einblick in den Klang seiner Heimat.
I bi a Bolle Käs, schmeck ab und züe reacht räs, bloß des müess öü it sing, wie frischt denn du mi i di ning. Mei Lieba wart nu Büe, dir hilf i schu i d’ Schüeh, moan lass i dir kui Rüeh, do bapp i dir ding Fidle züe.
Ich bin ein Stück Käse, rieche ab und zu recht streng, bloß das muss auch nicht sein, wie frisst denn du mich in dich rein, Mein Lieber warte nur – Junge, dir zeig ich’s schon noch, morgen lass ich dir keine Ruh, da klebe ich dir deinen Hintern zu. Der Ostrachtaler Dialekt ist eine Klangwelt für sich. Der Auswärtige hört viele ü. Doch wie lange noch? „Dialekte schwinden dahin, wie das Eis der Gletscher“, sagt Sprachwissenschaftler Werner König, der bis 2008 an der Universität Augsburg lehrte. Und das, obwohl Dialekte ein einzigartiges Merkmal für eine Region seien, ein Identitätsfaktor und ein besonderes Zeugnis unserer Kultur und Geschichte. Dennoch: „Die Jugend in den Großstädten spricht hochdeutsch. Die gut gemeinten Initiativen, die es mancherorts gibt, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Grund ist nach Ansicht von König das tief sitzende sprachliche Minderwertigkeitsgefühl des Südens. Der Glaube, dass in Norddeutschland, insbesondere in der Gegend um Hannover, ein besseres Hochdeutsch gesprochen wird als anderswo, hält sich schon lange, erklärt der Sprachwissenschaftler. „Der Tod unserer Dialekte ist damit programmiert.“Ist damit auch Hindelangs unverwechselbare Mundart dem Untergang geweiht?
Fest steht: Gerade in den Städten weicht der Dialekt immer mehr dem Hochdeutsch, weil sich dort die Gesellschaft durch Zuzug, unter anderem von Migranten, stärker mischt. „In München trifft man keinen mehr unter 30, dem man seine bayerische Herkunft in der Sprache anmerkt“, sagt König. Ähnlich verhalte sich das in Nürnberg und Augsburg. Die Jugendlichen wachsen immer häufiger nur mit Hochdeutsch auf, jener norddeutsch geprägten Sprache, die man in Film und Fernsehen als Standard wahrnehme. Mit dem Rückgang des Dialekts ist daher auch auf dem Land zu rechnen – wenngleich es dort noch die meisten Bemühungen gibt, das sprachliche Kulturgut zu bewahren.
Früher war Dialekt in Bad Hindelang noch Alltag, erinnert sich Mundart-Dichterin Cornelia Beßler und zieht die Stirn nachdenklich in Falten. Nur diejenigen im Ort, die Fremdenzimmer vermieteten, seien damals überhaupt mit Hochdeutsch in Kontakt gekommen. Die Autorin mit der Hochsteckfrisur und den hochgekrempelten Ärmeln ist eine Macherin. Sie schaut nicht tatenlos zu. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, dass der Ostrachtaler Dialekt auch unter den Kindern nicht in Vergessenheit gerät. Mundart ist für sie ein wahrer Schatz: „Im Dialekt kann i a Gfiehl onderscht üsdrucke wie im Hoachditsche.“Was ihr Sorgen bereitet: Es sind schon viele Wörter verloren gegangen.
15 Kilometer Luftlinie entfernt, mitten im Naturpark Nagelfluhkette, liegt ein kleines Bergdorf: Bolsterlang. In der alten Schule am Ortsrand mit den einladend roten Fensterläden ist ein Trend aus den Großstädten zu beobachten. Dort gibt die Logopädin Ariane Willikonsky neben Sprach- und Stimmtraining auch Hochdeutsch-Kurse. In der urigen Sprecherstube – das ehemalige Dorfklassenzimmer – übt gerade der Allgäuer Mediengestalter Markus Zieris. Er möchte sein Hochdeutsch aus beruflichen Gründen ausbauen. „Ich habe Kunden im Allgäu und in Hamburg zum Beispiel. Da wird sofort gefragt, wo ich herkomme und ob da alle so sprechen.“Der 49-Jährige ist stolz auf seinen Dialekt, der auch oft ein netter Gesprächseinstieg ist, sagt er. „Aber manchmal lenkt es auch einfach von der Sache ab.“
Willikonsky, die Sprech-Trainerin mit dem strahlenden Lächeln, kennt die Tücken der süddeutschen Mundart: „Die Allgäuer öffnen ihren Kiefer zu wenig, das R ist ihnen nach vorn gerutscht, es mangelt dadurch an Klang und Deutlichkeit. So wirken sie schwerer zugänglich und abgewandt, obwohl sie das nicht sind.“Sie ist sich sicher: „Eigentlich bräuchte es keine Hochdeutsch-Kurse. Aber immer mehr Menschen sind beruflich überregional tätig und wollen verstanden werden.“Sie selbst liebt den Dialekt. Es geht bei Hochdeutsch-Kursen nie darum, sich den Dialekt abzutrainieren oder seine eigene Heimat zu verleugnen, stellt Willikonsky klar. Auf Hochdeutsch sprechen zu können, bedeute Sprachkompetenz und Flexibilität.
Dialektpfleger Sepp Obermeier stellt es bei solchen „Dialektentwöhn-Kursen“, wie er sie nennt, die Nackenhaare auf. „Das grenzt fast schon an kulturellen Rassismus.“Der Niederbayer, ein stämmiger Typ mit Dreitagebart, ist der Gralshüter der bairischen Sprache und der Dialekte im Freistaat. Wenn er höre, die Allgäuer hätten ein falsches R, kann er nur den Kopf schütteln. „Das ist Real-Satire. Die können sich doch nicht anmaßen, zu lehren, was richtiges Deutsch ist.“
Wissenschaftlich sei es längst erwiesen, dass Kinder, die Dialekt sprechen, Fremdsprachen leichter lernen und wortgewandter sind, sagt der Dialektverfechter im tiefsten Bairisch. Wenn es um sein Lieblingsthema geht, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Das Argument, Mundart sei ein Karrierehindernis, lässt Obermeier nicht gelten. Bei Bewerbungsgesprächen komme Dialekt authentisch und ehrlich rüber; er sei eine „sprachliche Visitenkarte“. „Das ist ein Plus und kein Manko.“Auch bei Führungskräften sieht er das nicht als Nachteil. Es komme schließlich auf den Inhalt an. „Wer nicht authentisch auftritt, kann auch nicht überzeugend wirken.“Wenn dem Inhalt aber niemand folgen kann, wird Standarddeutsch wichtig – sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner aller Dialekte. So wie das auch mit Englisch in der internationalen Welt funktioniert, sagt Willikonsky.
Die Kinder in Bad Hindelang toben sich mittlerweile beim Pantomime-Spiel aus. Auf den Stühlen hält sie jetzt nichts mehr. Die Schüler klopfen eifrig Nägel in die Wand und stapeln Mauersteine. Sie imitieren Handwerksberufe. Von den zehn Schülern der Theatergruppe sprechen sieben Dialekt und Hochdeutsch. Sie sind stolz darauf, dass sie umschalten können. Auf die Frage, was der Dialekt für sie bedeutet, haben sie sofort eine Antwort parat: „Hoimat“. Der Ostrachtaler Dialekt ist eben mehr als nur Sprache, er ist ein Zugehörigkeitsgefühl.
Der Zuzug macht sich aber auch in Hindelang bemerkbar. Deshalb gibt es in der Theatergruppe auch Kinder, die keinen Dialekt sprechen. Ausgegrenzt wird deshalb niemand. Die interessierten Schüler lernen in einer Gruppe aus Gleichaltrigen ganz schnell Mundart, so die Erfahrung von Cornelia Beßler. Sie möchte den Schülern durch das Theater den Dialekt spielerisch beibringen und lebendig halten.
Dialektpfleger Sepp Obermeier sieht darin den richtigen Ansatz. Man müsse bei den Kleinsten anfangen. Dialektförderung beginne schon im vorschulischen Bereich, nämlich im Elternhaus, sagt er. Die Regel „Zu Hause darfst du Dialekt sprechen, draußen nur Hochdeutsch“oder Lehrer-Aussagen wie „Jetzt sag es mal so, dass es alle verstehen“, hält Obermeier für „fatale Killerphrasen“. Dialekt sollte ohne Tabu in allen Gesellschaftsschichten und zu allen Anlässen gesprochen werden.
Je mehr man zuhört, desto klarer wird: Hochdeutsch-Sprachtrainer und Dialektpfleger liegen mit ihren Positionen gar nicht so weit auseinander. Beide fordern ein Nebeneinander von Mundart und Hochdeutsch und kein stures „Entwederoder“. Doch hier liegt das eigentliche Problem. Damit Dialekt überhaupt wieder mehr gesprochen wird, braucht er eine gesellschaftliche Aufwertung. Sprachwissenschaftler König nennt nur zwei Beispiele der traurigen Realität: Dialektsprecher gelten als geistig minderbemittelt, Sachsen werden wegen ihrer Sprachfärbung belächelt. Linguisten sprechen in diesem Zusammenhang von sprachlicher Diskriminierung. „Während unsere Gesellschaft bei anderen Formen der Diskriminierung, bezüglich der Hautfarbe oder des Geschlechts, sensibel ist und auch darauf reagiert, ist ein Bewusstsein für die Diskriminierung von Dialektsprechern nicht vorhanden.“Die Diskussion fehle.
In der Musikbranche ist Mundart jedenfalls schon angekommen. Eine faszinierende Entwicklung legt die deutschlandweit bekannte ReggaeBand „Losamol“aus dem Allgäu hin. Der Name bedeutet „Hör einmal zu!“und steht für „Sprech’ doch, wie dir der Schnabel gewachsen ist.“Die vier Musiker haben sich den Allgäuer Dialekt auf die Fahnen geschrieben und sprechen diesen auch mit Vorliebe selbst – auf der Bühne wie im Alltag. Und nicht, weil sie es nicht anders könnten. Alle Sänger haben zuvor jahrelang auf Hochdeutsch oder Englisch gesungen. „Man kann es schon, wenn man möchte. Aber müssen tut man gar nichts – außer sterben, wie die Großmutter zu sagen pflegte“, lautet ihre Einstellung.
Von diesem Vorstoß ist auch Cornelia Beßler begeistert – von den Texten und der fetzigen Musik. „Sappralot, die händ an Schneid!“Und auch der zehnjährige Leo aus der Theatergruppe geht mit seinem Dialekt ganz selbstverständlich um. Er sagt: „I schwätz allad Dialekt – dohuim, mit Freind und in dr Schüel.“Die Kinder lernen durch das Theater, selbstbewusst mit Mundart umzugehen. Ein Schritt zu mehr Dialekt im Alltag.
„Der Tod unserer Dialekte ist programmiert.“Werner König, Sprachforscher
„Der Dialekt ist eine sprachliche Visitenkarte.“Sepp Obermeier, Dialektpfleger