„Für immer in unseren Herzen“
Vor einem Jahr begann die Brandkatastrophe im Grenfell Tower. Bis heute steht der Betonklotz wie ein Symbol für das, was im Königreich schiefläuft
London Wenn Christos Fairbairn die Augen schließt, schlagen die Erinnerungen wie Blitze in seine Gedanken ein. Die Wohnungstür. Der Rauch. Das Treppenhaus. Und wie er durch die Hölle rannte, atemlos, panisch, hinunter vom 15. Stockwerk, wo er lebte, vorbei an Wohnungen, in denen Familien mit nassen Handtüchern am Boden kauerten und auf Hilfe warteten, weil ihnen das die Notrufzentrale geraten hatte. Er rannte durch die 4. Etage, wo nur wenige Stunden zuvor ein Kühlschrank explodiert war und weshalb kurz darauf der Grenfell Tower lichterloh in Flammen stand.
Fairbairn entkam dem Inferno an jenem 14. Juni 2017. Der Sozialbau im Londoner Westen ragte stundenlang wie eine riesige brennende Fa- ckel in den Nachthimmel. 72 Menschen starben bei der Katastrophe, einer der größten der vergangenen Jahrzehnte im Vereinigten Königreich.
Der 67 Meter hohe Sozialbau ist mittlerweile komplett verhüllt von weißen Planen, an der Spitze sind Banner angebracht mit grünen Herzen und den Worten „Grenfell – forever in our hearts“, „für immer in unseren Herzen“. Doch die helle Verschleierung kann zwar das Gerippe, aber nicht den Schrecken überdecken, der die Menschen in dem Viertel verfolgt. Zu tief sitzen der Schmerz, die Trauer, die Wut. Das zeigt auch das Ausmaß der öffentlichen Anhörung, die vor einigen Wochen begann und akribisch von der Öffentlichkeit verfolgt wird. Es geht unter anderem um die Fragen, wie es zu dem Feuer kom- men konnte und wie ein solches Desaster in Zukunft vermieden werden kann. Überlebende und Angehörige von Opfern erzählen in bewegenden Statements von ihren Erlebnissen, Brandschutzexperten werden gehört sowie Stadtrat, Vertreter der Mieter-Initiative, Sozialarbeiter und Feuerwehrleute. Zudem müssen sich beteiligte Bauunternehmer und Verantwortliche des Gebäude-Managements erklären. Dabei war auch die Fassadenverkleidung Thema – genau diese hatte sich in der schicksalhaften Nacht als Brandbeschleuniger entpuppt. Berichten zufolge hatten wohlhabende Nachbarn sie gewünscht, weil der schmucklose Turm die Aussicht störte. Für die Ummantelung aber wurde aus Spargründen entflammbares, günstiges Material benutzt statt der teureren, feuerfesten Ausführung. Eine Brandschutzingenieurin kam in ihrem Bericht für die richterliche Untersuchung zu dem Ergebnis, dass den Bewohnern in jener Nacht fälschlicherweise aufgetragen wurde, in ihren Wohnungen auszuharren. Zu viele befolgten den tödlichen Rat der Notrufzentrale – und verbrannten in ihrem Zuhause.
Wer ist schuldig? Das soll nun geklärt werden. Der Londoner Bezirk Kensington und Chelsea gehört zu den reichsten im Königreich. Nirgendwo sonst aber sind gleichzeitig die sozialen Unterschiede größer.
Der verkohlte Betonklotz steht für viele als Symbol für all das, was schiefläuft auf der Insel. Die jahrelange Sparpolitik, die Kürzungen im Sozialsystem, horrende Immobilienpreise in London – quasi der Nährboden für die Katastrophe im Grenfell Tower.