„Auch auf der ISS hat die Arbeitswoche fünf Tage“
Thomas Reiter war fast ein Jahr im All – unter ganz anderen Bedingungen als Alexander Gerst heute. Ein Gespräch über das Leben in der Raumstation, Markus Söders ehrgeizige Pläne und die erste Mission zum Mars
Reiter ist ein Mann mit vielen Talenten. Er hat eine Amateurfunklizenz, er hat früh mit dem Segelfliegen begonnen, Fernsehsendungen wie die Reihe „Expedition Erde“präsentiert und ein paar Jahre im Vorstand des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gearbeitet. Bekannt aber wurde der 60-Jährige, lange vor Alexander Gersts Missionen, als Astronaut. 1995 flog er zur russischen Raumstation Mir, elf Jahre später dann zur internationalen Raumstation ISS. Mit fast einem Jahr im All ist er der deutsche Raumfahrer mit der größten Erfahrung im Orbit.
Herr Reiter, haben Astronauten, die so lange auf so engem Raum zusammenleben wie Alexander Gerst und seine Kollegen auf der ISS, irgendwann auch mal einen Lagerkoller?
Reiter: So würde ich das nicht nennen. Natürlich gibt es nach vier Monaten an Bord auch mal einen Montag, an dem man vielleicht nicht so motiviert ist, oder ein Experiment, das nicht so interessant ist wie andere. Am Ende aber entschädigt einen der fantastische Ausblick da oben für fast alles. Außerdem hat die ISS heute deutlich mehr Platz als zu meiner Zeit – sie ist innen inzwischen so groß wie ein Jumbojet.
Wie muss man sich den Alltag da oben vorstellen? Hat ein Astronaut auch mal Feierabend?
Reiter: Weil man sich im Orbit ja auf eine Zeit einigen muss, richtet sich der Tagesablauf nach der Greenwich Mean Time. Generell kann man sagen: Der Tag beginnt für die Astronauten nach ihrem Dienstplan um sieben Uhr morgens mit der Morgentoilette und dem Frühstück, danach folgt eine kurze Besprechung mit dem Kontrollzentrum und dann geht es los mit der Arbeit. Außerdem muss jeder Astronaut pro Tag zweieinhalb Stunden Sport machen, die meisten Kollegen erledigen das vor dem Mittag- und vor dem Abendessen. Gegen 22 Uhr ist dann Feierabend, aus eigener Erfahrung allerdings weiß ich, dass man selten vor Mitternacht ins Bett kommt, weil der Tagesablauf an Bord minutiös durchgetaktet ist und man vorher zum Beispiel gar nicht dazu kommt, mal eine Mail zu beantworten oder etwas zu lesen. Wie unten auf der Erde hat auch die Arbeitswoche auf der ISS fünf Arbeitstage. Samstag und Sonntag sind allerdings nicht komplett frei, da muss auch mal sauber gemacht oder ein Gerät gewartet werden.
Heute sind Astronauten praktisch immer online. Sie twittern oder schicken Videobotschaften zur Erde. Wie war das damals eigentlich bei Ihnen? Wie haben Sie Kontakt zur Erde gehalten, zu Freunden und Angehörigen? Reiter: Auf der Mir waren wir noch viel stärker auf uns selbst gestellt, weil wir während des Tages nur alle 90 Minuten für maximal 20 Minuten Funkverbindung hatten. Mit unseren Familien konnten wir nur am Wochenende kurz sprechen, und zwar im wöchentlichen Wechsel einmal per Funk und die Woche darauf dann per Video. Dazu aber mussten die Familien im russischen Kontrollzentrum sein, alle in einem Raum – und jede Familie durfte fünf Minuten mit „ihrem“Astronauten sprechen. Heute haben sie praktisch rund um die Uhr und rund um den Orbit eine Verbindung. Da können Sie zwischendurch auch mal schnell zu Hause anrufen. Außerdem gibt es jedes Wochenende eine Art Videokonferenz.
Von einem Koalitionskrach wie jetzt in
Berlin hätten Sie damals also nichts mitbekommen?
Reiter: Wenn überhaupt, dann erst mit Verspätung. Die Versorgung mit Nachrichten war damals schon sehr spärlich. Heute hat auf der ISS jedes Besatzungsmitglied eine eigene Internetseite, auf die das Kontrollzentrum aktuelle Meldungen, Bilder von der Familie oder die Fußballergebnisse zur Raumstation schickt.
Alexander Gerst lässt flüssiges Metall schweben und vermisst seine Knochen in der Schwerelosigkeit, um die Entstehung von Osteoporose zu erforschen. Welchen Nutzen haben solche Experimente für uns Normalsterbliche? Reiter: Viele Experimente sind klassische Grundlagenforschung. Wir versuchen mit ihnen, bestimmte Vorgänge in der Medizin oder der Physik besser zu verstehen, zum Beispiel biochemische Prozesse in unseren Körpern oder beim Pflanzenwachstum. Im Moment beschäftigen sich viele Experimente mit Immunfunktionen, weil der Körper das Immunsystem in der Schwerelosigkeit massiv zurückfährt. Darüber hinaus geht es aber auch um teilweiThomas se sehr konkrete Anwendungen. Die Viskosität, also die Zähflüssigkeit, von bestimmten Legierungen etwa kann ich dort oben wesentlich genauer bestimmen als auf der Erde. Mit solchen Erkenntnissen lassen sich Produktionsprozesse erheblich verbessern.
Was ist eigentlich aus den Experimenten geworden, die Sie damals durchgeführt haben?
Reiter: Da kann ich Ihnen ein schönes Beispiel nennen. Wir haben damals mit einem sogenannten Plasma-Kristall-Experiment begonnen. In einem Plasma trennen sich die Elektronen von den Gasatomen, ähnlich wie in einer Leuchtstoffröhre. Aus dieser Grundlagenforschung hat ein eigens gegründetes Unternehmen später ein Verfahren entwickelt, um mithilfe von sogenannten kalten Plasmen Oberflächen zu desinfizieren – zum Beispiel die von Wunden oder die von Operationssälen im Krankenhaus. Und das alles ohne jede Chemie, sondern alleine mit ionisierter Luft.
Das heißt, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat die Zeichen der Zeit erkannt, wenn er künftig mehr Geld in die Raumfahrt stecken will?
Reiter: Die Raumfahrt ist heute viel mehr Teil unseres Alltags, als es den meisten Menschen bewusst ist – denken Sie nur an die Satellitenkommunikation, die Navigation oder die Erdbeobachtung. Raumfahrt bewegt sich an den Grenzen des technisch Machbaren, sie ist damit bei weitem nicht der einzige, aber eben auch ein wichtiger Antreiber für industrielle Innovationen. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich gut, wenn sich Bund und Länder hier stärker engagieren.
Wird Ottobrunn mit dutzenden von neuen Lehrstühlen und den Firmen, die sich dort ansiedeln sollen, das deutsche Cape Canaveral?
Reiter: So weit würde ich jetzt nicht gehen, aber eines ist klar: In Ottobrunn baut ein Unternehmen wie Airbus Raketenantriebe, das einen großen Bedarf an Ingenieurinnen und Ingenieuren hat. Insofern macht es natürlich Sinn, weiter in die universitäre Ausbildung zu investieren. Bayern leistet hier eine Menge – und das nicht erst heute. Ich selbst habe an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München studiert und bin so auch zur Raumfahrt gekommen.
In den USA wurde lange an der Raumfahrt gespart, dafür pumpt China umso mehr Geld in sie. Wie gut ist Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt – und wo sehen Sie noch Defizite?
Reiter: Deutschland gibt im Jahr etwa 1,7 Milliarden Euro für die Raumfahrt aus. Das ist nicht wenig, aber in Europa liegen wir damit noch ein gutes Stück hinter Frankreich. Wir haben eine hervorragende Raumfahrtindustrie, nicht zuletzt in Bayern mit Unternehmen wie Airbus oder MT Aerospace in Augsburg, und hervorragende Forschungseinrichtungen wie das DLR. In Frankreich allerdings sind die Raumfahrtaktivitäten deutlich besser koordiniert und aufeinander abgestimmt. Wir in Deutschland haben gute Ideen, wir haben tolle Fähigkeiten, wir sind wissenschaftlich auf Augenhöhe – beispielsweise sucht die Konstellation von den Radarsatelliten TerraX und TandemX weltweit ihresgleichen. Trotzdem könnten wir bei der nationalen Abstimmung noch besser werden.
Wenn jemand wie Tesla-Gründer Elon Musk viel privates Kapital in die Hand nimmt und in die Raumfahrt investiert: Heißt das, dass man im Weltall Geld verdienen kann? Ein weitverbreitetes Vorurteil lautet ja, die Raumfahrt sei ein Milliardengrab. Reiter: Ein Milliardengrab ist sie sicher nicht, man kann in der Raumfahrt inzwischen gutes Geld machen. Das beste Beispiel ist der Bereich der Telekommunikation, in dem Firmen wie EutelSat, SES und viele andere Übertragungsleistung zur Verfügung stellen. Was Elon Musk angeht: Er hat mit seiner Firma Space X ein tolles Projekt an den Start gebracht, er ist mit ihr sehr erfolgreich. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er zum großen Teil auch von den Aufträgen der Nasa lebt. Die Preise, die er von kommerziellen Kunden für den Start einer Falcon-9-Rakete verlangt, sind deutlich niedriger als die Preise, die die Nasa oder das US-Verteidigungsministerium bezahlen. Im Bereich der Erdbeobachtung wiederum wird das Geld kaum noch mit den Bilddaten verdient, die von den Satelliten zur Erde gefunkt werden, sondern mit der Verarbeitung dieser Daten, etwa für Stadtplaner oder für die Präzisionslandwirtschaft. In den USA haben sich inzwischen sogar erste Start-ups gegründet, die auf Asteroiden nach Ressourcen schürfen wollen. Das hört sich für uns noch sehr exotisch an, aber dahinter stecken mehrere hundert Millionen Dollar an Risikokapital. Das bedeutet: Jemand glaubt an diese Geschäftsidee.
Die europäische Raumfahrtagentur Esa kooperiert mit den Chinesen, etwa beim Training von Astronauten. Wird Alexander Gerst oder ein anderer Deutscher irgendwann zu einer chinesischen Station fliegen?
Reiter: Das ist sehr wahrscheinlich. Wir haben bereits ein Rahmenabkommen mit der chinesischen Agentur geschlossen und mehrere Arbeitsgruppen eingerichtet – mit dem Ziel, Anfang des nächsten Jahrzehnts einen europäischen Astronauten zur chinesischen Station zu schicken. Und natürlich wäre es schön, wenn da auch einmal eine deutsche Astronautin dabei wäre.
Und wer fliegt als Erster zum Mars? Die Amerikaner, die Chinesen oder womöglich gar ein Europäer?
Reiter: Bis wir Menschen zum Mars schicken können, haben wir noch einige technologische Herausforderungen zu meistern. Der nächste logische Schritt wäre der zum Mond, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln: Wie schütze ich mich vor der kosmischen Strahlung? Wie gewinne ich Wasser, um Sauerstoff und Treibstoff herzustellen? Ich rechne damit, dass wir uns in etwa zwei Jahrzehnten auf den Weg zum Mars machen können. Und die Crew sollte natürlich möglichst international sein, ein Europäer inklusive. Thomas Reiter ist in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Nach dem Abitur ging er zur Bundeswehr, studierte in Neubiberg bei Mün chen Luft und Raumfahrttechnik und ließ sich zum Jetpiloten ausbilden. 1989 meldete sich Reiter mit 22 000 weiteren Europäern für das Aus wahlverfahren zum europäischen As tronautenkorps an. Sechs Jahre später flog er mit einer Sojus Kapsel zur russischen Raumstation Mir. Heute arbeitet der 60 Jährige als Be rater für die europäische Raum fahrtagentur Esa. Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. (rwa)