Mutterseelenallein
Nach der Geburt bekommen viele Frauen eine psychische Erkrankung – allein in Deutschland sind es jedes Jahr etwa 100 000. Was betroffene Mütter erleben und wie der Verein „Schatten und Licht“aus Welden hilft
Welden Eigentlich hat sich Franziska Baier* sehr auf ihr Baby gefreut. „Meine Schwangerschaft war ein Traum, die Geburt ein Klacks“, erzählt die junge Mutter aus der Region Augsburg. Doch schon im Krankenhaus verändert sie sich. Sie wird immer misstrauischer, will niemandem ihr Kind anvertrauen, sich aber selbst auch nicht mit ihm beschäftigen. „Alles hat mich in Stress versetzt“, sagt sie. „Ich bin mir vorgekommen wie in Trance.“Erst ist sie völlig aufgedreht, schläft kaum; dann hat sie Wahnvorstellungen, einen Nervenzusammenbruch. „Mir kam alles vor wie im Film, als ob eine Glasscheibe zwischen mir und der Welt wäre.“
Franziska Baier ist Ärztin, doch was mit ihr los ist, realisiert sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Ihr Mann aber hat Angst, dass sie sich etwas antut, informiert sich im Internet, meldet sich schließlich bei dem Verein „Schatten und Licht“– und die Familie bekommt endlich Hilfe. Mehrere Wochen verbringt die junge Mutter im Bezirkskrankenhaus, die Medikamente helfen, sie bekommt Tipps, wie sie den Alltag meistern kann. Die Diagnose: eine postpartale Psychose.
Franziska Baier ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Es sind viele Frauen, die rund um die Geburt ihres Kindes in eine seelische Krise stürzen, eine psychische Erkrankung bekommen – allein in Deutschland jährlich etwa 100 000.
Der Verein „Schatten und Licht“setzt sich bundesweit für diese Frauen und ihre Angehörigen ein. Er hat seinen Sitz in Welden im Landkreis Augsburg. Hilfe brauchen betroffene Mütter an vielen Stellen, erklärt die Vorsitzende Sabine Surholt: „Häufig ziehen sich die Frauen zurück und versuchen trotz tiefster Verzweiflung die Fassade der glücklichen und perfekten Mutter aufrechtzuerhalten.“Viele Betroffene hätten auch wochenlange Irrwege von Arzt zu Arzt hinter sich, bis die Erkrankung richtig diagnostiziert wird.
So eine psychische Erkrankung ist mehr als der bekannte „BabyBlues“. Von diesem Stimmungstief sind in den ersten 14 Tagen nach der Geburt mehr als die Hälfte der Mütter betroffen, es dauert maximal einige Tage und muss nicht behandelt werden. Wenn die schlechte Stimmung aber über zwei Wochen anhält, dann kann dies das erste Anzeichen einer Depression sein.
Experten sprechen von peripartalen psychischen Erkrankungen (lateinisch: peri = rund um, partus = Niederkunft). Umgangssprachlich wird häufig der Begriff „postnatal“verwendet. Weil es aber nicht um das Kind und dessen Geburt (lat. natus) geht, vermeiden Fachleute die Bezeichnung „natal“. Die Ursachen für diese Probleme sind vielschichtig. Die Umstellung des Hormonhaushaltes der Frau nach der Geburt kann eine Rolle spielen. Häufig seien auch „perfektionistisch veranlagte Mütter“betroffen, die sowieso schon alles hinterfragen und sich nicht gut genug fühlen, sagt Sabine Surholt. Oft hätten sie helfende Berufe: Krankenschwester, Ärztin, Erzieherin oder Psychologin. „Die Frauen überfordern sich selbst“, sagt Surholt.
So geht es auch Franziska Baier. Mit dem Kind ist zu Hause alles anders – „aber der Haushalt muss laufen und top aussehen soll man ja auch noch“. Wenn sie in der Krabbelgruppe die vielen glücklichen Mütter sieht, dann kommt sie sich vor wie eine Rabenmutter. Dass es ganz normal ist, dass in dieser Situation das Leben erst einmal kopfsteht, das erkennt sie nicht. Kein Wunder, meint Sabine Surholt: „In der Werbung sehen wir ja auch nur die gestylte Mutter mit strahlendem Baby auf dem Arm“, sagt die Expertin. „Aber dass das alles anstrengend ist und man die meiste Zeit nur im Schlafanzug unterwegs ist, das gibt doch keiner zu.“Und psychische Erkrankungen seien sowieso für viele ein Tabu, ein Psychiatrie-Aufenthalt erst recht. „Im- mer noch sagt man lieber: Ich habe einen Herzinfarkt. Als: Ich habe eine Depression.“
Das war vor 25 Jahren, als die Kunsthistorikerin aus Welden ihr erstes Kind bekam, noch schlimmer. Bei ihrer Entbindung sei damals „einiges schiefgelaufen“, erzählt Surholt. Sie sei gedrängt worden, dann habe man ihr das Kind „entrissen“, sie musste mehrmals operiert werden. Sie bekam Todesängste. Dann begann eine „Odysee von Arzt zu Arzt“, doch eine Diagnose gab es nicht. Zwei Jahre später, 1994, sah sie zufällig eine Fernsehsendung, in der ausländische Experten und eine betroffene Mutter genau das schildern, was sie erlebt hat. Jetzt weiß sie: Anderen geht es genauso. Und sie kennt den Namen für ihre Krankheit: postpartale Depression. Nach der Fernsehsendung meldeten sich viele Frauen – und gründen daraufhin 1996 den Verein „Schatten und Licht“. Surholt ist seit 20 Jahren die Vorsitzende des Vereins.
Die Ehrenamtlichen helfen bundesweit Frauen mit peripartalen psychischen Erkrankungen. Etwa bei einer Psychose. Die Betroffenen haben extreme Angstzustände und Wahnvorstellungen, hören Stimmen und sehen teils Menschen und Dinge, die nicht existieren. Sie leben einerseits in depressiven Phasen mit Antriebs-, Bewegung- und Teilnahmslosigkeit, dann wieder in manischen mit starker Antriebssteigerung und Unruhe. Eine peripartale Psychose kommt bei einer bis drei von 1000 Müttern vor. Deutlich häufiger sind Depressionen, Angstund Zwangsstörungen: Zehn bis 20 Prozent aller Mütter bekommen diese – in unterschiedlich starker Ausprägung. Die Frauen sind müde, traurig, erschöpft, haben Versagensgefühle, Konzentrations-, Appetit- und Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Panikattacken, manche Suizidgedanken.
So ging es auch Birgit Mayr aus Meitingen, nachdem ihr Sohn 2001 geboren war. „Daheim hat zunächst alles super geklappt“, erzählt sie. Doch als ihre Eltern nach ein paar Wochen in den Urlaub fuhren, fühlte sie sich mutterseelenallein. Sobald das Baby schrie, begann sie zu zittern, bekam Schweißausbrüche. Bald konnte sie überhaupt nichts mehr essen. Ihr Hausarzt reagierte verständnislos: „Das ist halt eine Magenverstimmung“, meinte er. Nein, es war eine Depression. Mayr machte eineinhalb Jahre eine Verhaltenstherapie, war auch stationär im Bezirkskrankenhaus. Mittlerweile geht es ihr gut, auch wenn sie immer wieder depressive Phasen hat. Nun kann sie ihre Erfahrungen weitergeben – oder einfach nur zuhören. Seit gut zehn Jahren leitet sie die Augsburger Selbsthilfegruppe, in der sich jeden Monat etwa zwölf Frauen aus der Region treffen, macht für den Verein auch Telefonberatung und Hausbesuche.
Das ist die Stärke von „Schatten und Licht“, sagt Sabine Surholt: Dass die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen alle selbst betroffen waren. Der Verein hat mittlerweile ein deutschlandweites Netz an Selbsthilfegruppen, Beratern und Fachleuten aufgebaut und vermittelt spezielle Mutter-Kind-Einrichtungen, falls eine stationäre Behandlung nötig ist. Gut angenommen wird nicht nur die Telefonberatung, sondern auch das moderierte Forum auf der Internetseite.
Aus ihrer Arbeit weiß Surholt, dass in Deutschland Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten begrenzt sind. „Ärzte und Therapeuten müssen in ihrer Ausbildung mehr über dieses Krankheitsbild erfahren“, sagt sie. Und: „Es müssen mehr Mutter-Kind-Einrichtungen finanziert werden, um den Müttern und ihren Kindern einen guten Start in ihre Beziehung zu ermöglichen.“Für Therapieplätze gibt es lange Wartelisten. Surholt fordert, wie es in England und Irland gemacht werde, alle Wöchnerinnen auf psychische Erkrankungen zu testen. Der sogenannte EPDS-Test sei eine einfache Möglichkeit, betroffene Mütter schneller zu erkennen und ihnen besser zu helfen.
Franziska Baier ging es nach einem halben Jahr wieder gut. Ihre Tochter ist nun viereinhalb Jahre alt. Und sie hat kürzlich ein Geschwisterchen bekommen. „Das haben wir uns sehr lange überlegt“, gibt sie zu. Aber sie hat sich schon vorher Hilfe geholt und tatsächlich keine Psychose bekommen – „obwohl ich nach drei Tagen gedacht habe, es geht wieder los“. Dass es betroffenen Frauen beim zweiten Kind sehr oft besser geht, wenn sie sich bewusst darauf vorbereiten, diese Erfahrung hat auch Surholt gemacht. „Und wir können den Frauen versichern, dass es ein Leben danach gibt“– und nach viel Schatten wieder einen Lichtblick.
Dass alles anstrengend ist, gibt keiner zu
Angst und Zwangsstörungen kommen häufig vor
OHilfe Betroffene und Angehörige können sich auf der Internetseite www.schatten und licht.de informieren.