Was bedeutet die Einheit?
Grünes Licht für die Wiedervereinigung Wie Familien, die aus den neuen Bundesländern in den Landkreis Dillingen gezogen sind, heute die Deutsche Einheit sehen. Und was sie vom Leben in der DDR vermissen
Wie sehen Familien, die aus den neuen Bundesländern in den Kreis Dillingen gezogen sind, die Deutsche Einheit? Fehlt ihnen etwas von der DDR?
Binswangen/gundelfingen Sie können sich noch ganz genau zurückerinnern an den Tag, der alles ins Rollen brachte. Irrtümlich verkündete Ddr-pressesprecher Günter Schabowski am 9. November 1989 die sofortige Grenzöffnung. Die Mauer fiel, und am Ende stand am 3. Oktober 1990 die Deutsche Einheit, die am Mittwoch wieder gefeiert wird. Für den Neu-binswanger Matthias Schramm, der in der DDR aufgewachsen ist, ist das ein besonderer Tag. „Dass Kohl und Genscher es auf die Reihe brachten, dass die Russen uns freigegeben haben, war das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Schramm. Seine Frau Constanze stimmt ihm zu. „Lange wäre das nicht mehr gut gegangen in der ehemaligen DDR.“
Seit Februar 2017 wohnen die Schramms in Binswangen. Wegen des weiten Wegs zu den Kindern wollten sie nicht mehr in ihrem Heimatdorf im Erzgebirge bleiben, obwohl sie Constanzes Elternhaus auf dem 3500 Quadratmeter großen Grundstück nur ungern weit unter Wert verkauft haben. Den Garten habe 1970 ein Gärtner parkähnlich angelegt, erklärt Matthias Schramm. „Und wir haben ihn gehegt und gepflegt.“Wie die meisten Leute in ihrem Heimatdorf Erlbachkirchberg dachten die Schramms 1989 überhaupt nicht daran, die nötigsten Sachen zu packen und mit ihren fünf und sieben Jahre alten Kindern in den Westen zu flüchten. „Wer ein Haus hat, wer lässt das von einem Tag auf den anderen stehen?“
Auf gepackten Koffern saß Constanze Schramm trotzdem. Einen Tag nach der Grenzöffnung startete die Lehrerin mit ihrer zehnten Klasse
Der Zusammenhalt war größer in der Not
zur Abschlussfahrt nach Russland. „Ich hatte das lange vorher beantragt. Dass wir die Genehmigung bekommen haben, war nicht selbstverständlich.“Damals arbeitete sie an der Polytechnischen Schule, wo die Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse unterrichtet wurden. Später wurde diese zur Realschule. Das von vielen erwartete Chaos sei nach der Wende ausgeblieben. Supermärkte und Firmen machten auf, Letztere oft schnell wieder zu. Die Zeit war vorbei, wo die Ladeninhaberin besonders seltene Ware wie Bananen auf die Familien im Dorf aufteilte. Nur deshalb bekam auch Constanze etwas davon, denn sie konnte erst nach der Arbeit einkaufen gehen.
Die Lehrerin erinnert sich, dass das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik auch gute Seiten gehabt habe. „Der Zusammenhalt war größer in der gemeinsamen Notsituation.“Auf der anderen Seite standen der Eiserne Vorhang und die Überwachung. Mit der Stasi zusammenzuarbeiten, wäre für sie nie infrage gekommen, sagt Constanze Schramm. Die Familie habe sich nichts zuschulden kommen lassen, aber zuhause habe man frei gesprochen. Immerhin wussten die Schramms, wie es in der Welt jenseits der Grenze zuging. Die Schramms hatten West-fernsehen sowie Verwandte in der Bundesrepublik, die immer wieder zu Besuch kamen. Constanze Schramm sagt heute: „Vielleicht waren wir feige, aber wir haben ja gesehen, welche schlechten Erfahrungen andere gemacht haben.“
Da es zu wenige Lehrstellen gab, ging Tochter Elisabeth nach der Fachoberschule weg, wie viele ihrer Freunde. Sie absolvierte ihre Ausbildung in Augsburg, wohnte dann in Gersthofen, inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und den fünf Kindern in Binswangen. Constanze Schramm sagt: „Wir sind Familienmenschen und wollten bei den Kindern sein.“Als sie ihr heutiges Haus in Binswangen gefunden haben, war die Entscheidung schnell getroffen und beide sind sich einig: „Wir haben es nie bereut.“Inzwischen wohnt auch ihr Sohn mit Frau und Kind in München. „Wir haben uns gut eingelebt und sind von vielen willkommen geheißen worden“, sagt Constanze Schramm zufrieden. Die 58-Jährige arbeitete anfangs im Schilderladen des Schwiegersohns in Wertingen, heute in der Ganztagsbetreuung im Gymnasium. Herzlich wurde sie im Gartenbauverein und beim Frauenturnen aufgenommen. Kfz-schlosser und Berufskraftfahrer Matthias Schramm fand sofort Arbeit als Busfahrer und fühlt sich bei den „Frohsinn“-schützen wohl.
Dass Constanze in Bayern nach 34 Berufsjahren nicht als Lehrerin arbeiten darf, trifft sie hart. Ihr Abschluss, der für Berufsschulen gilt, werde nicht anerkannt. Zu Zeiten, wo Lehrer händeringend gesucht und Quereinsteiger ohne pädagogische Erfahrung umgeschult werden, hat sie dafür kein Verständnis. Sie habe selbst viele Lehrer ausgebildet, die in Bayern schnell Arbeit fanden. Jahrelang war sie Fachbetreuerin. Nun müsste sie ein Referendariat machen, damit die Verantwortlichen sie einstellen dürften.
Ortswechsel, Gundelfingen. Dort lebt Astrid Mai mit ihrem Mann Thomas. Die Deutsche Einheit sieht die Gundelfingerin durchwegs positiv. „Für uns war es damals das Beste, was passieren konnte.“Die Dresdenerin ist aber gegen Schwarz-weiß-malerei. In der DDR sei damals nicht alles schlecht gewesen. „Unser Schulsystem war meiner Meinung nach sehr gut. Wir waren viel unbeschwerter, hatten nicht so viel Druck“, sagt Astrid Mai. Ihr Mann kam bereits 1989 nach Gundelfingen, sie folgte ihm ein Jahr später. Am Anfang sei es für sie schwer gewesen, sich richtig einzuleben. „Es gab sehr viele Vorurteile und Gerüchte über Menschen aus dem Osten, oft einfach aus Unwissenheit.“Doch im Laufe der Jahre seien diese verflogen.
Ihre Heimat besuchen die Mais öfter. Dann treffen sich die Gundelfinger mit alten Freunden, die im Osten geblieben sind. Da sei dann auch die Entwicklung der neuen Bundesländer ein Thema. „Die großen Städte wie Dresden oder Leipzig haben sich super entwickelt, aber das Umland ist in den meisten Fällen abgehängt worden“, bedauert Astrid Mai. Durch die Umstellung auf die Marktwirtschaft und die Übernahme vieler Betriebe seien viele Stellen verloren gegangen, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze. „Die Infrastruktur ist vielerorts auch sehr schwach“, merkt Mai an.
Und vermisst sie ihre Heimat? „Manchmal schon, aber nicht mehr so sehr wie am Anfang, als ich hergekommen bin“, sagt Astrid Mai. Mittlerweile fühle sie sich in Gundelfingen sehr wohl.