Die Gesellschaft unter dem Brennglas
Kabarett Mathias Tretter rast bei seinem Auftritt in Höchstädt durch die Themen unserer Zeit. „Pop“ist brutal klug
Höchstädt Gerüstet mit mehr als zwanzig Jahren Bühnenerfahrung, der heimische Trophäenschrank, sofern vorhanden, übervoll mit kleinen und großen Kabarettpreisen, hat Mathias Tretter vermutlich so ziemlich alles erlebt, was einem Live-Künstler passieren kann. Was kann diesen an den tiefen Abgründen des Wahnwitzes entlang balancierenden Wortkünstler also schrecken?
Sein Auftritt in der Kim-Sporthalle in Höchstädt zeigt: Zumindest kein flauer Magen. Wie Veranstalter Wolfgang Konle (SPD) in der verlängerten Pause den Zuschauern mitteilen muss, ist dem Kabarettisten übel. Das Publikum nimmt’s gefasst auf. Und Tretter kennt kein „trettern“– ein Synonym für jammern, wie er erklärt – seinen Auftritt zieht er mit dem Eimer in Reichweite durch. Der tiefrote Lippenstift betont nicht nur die blasse Gesichtsfarbe des Künstlers, er kann als Warnung an all diejenigen mit einem allzu zarten Gemüt verstanden werden. Denn sein Solo-Programm „Pop“ist ein brandgefährlicher Rundumschlag – Lachmuskeln und Intellekt sind einer nicht enden wollenden Flut an Wort- und Gedankenspielen ausgesetzt.
Dabei muss es keineswegs immer über-gedankenschwer um Transhumanismus oder Nietzsche gehen – Tretter scheut humoristische Untiefen keineswegs. So plädiert er dafür, jegliche „Political Correctness“fallen zu lassen. Er selbst geht dabei mit brutal-gewitzter Rhetorik voran, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten. Das muss man mögen, zumal er zuvor über die Beziehung zwischen seinem primären Geschlechtsmerkmal und dem Schottenrock spricht. Dem Publikum gefällt’s, nahezu jede Pointe führt zu lauten Lachern. Der Kabarettist offenbart sich an diesem Abend als zielsicherer, und dabei gnadenloser Beobachter unserer Gesellschaft. Tretter schafft es, über die Post-Post-Moderne, technologische Fortschritte oder das Retro-Phänomen Windowing bei meist gleichbleibend hohem intellektuellen Anspruch in einer derart unverschämt-anspruchsvollen Art und Weise zu sprechen, für inneren Widerspruch ist da nur selten Zeit. Der regt sich hier und da dennoch, wenn der Rechtsradikale immer mit ostdeutschem Dialekt spricht und es ein wenig zu oft um den Islam und seine Spielarten geht.
Zu Hilfe kommt ihm im Programm sein bester Freund und Alter Ego Ansgar. Der ist promovierter Hausmeister und dabei, seine eigene Partei zu gründen – die Partei ohne Partei, kurz „Pop“. Ansgars Anspruch, rechts von der AfD und links der Grünen zu agieren, offenbart die große Kunst des Kabarettisten Tretter. Zusammen mit Ansgar enthüllt er dem Publikum die Politiker-Antithese Donald Trump, die Gefahren, die mit der Unsterblichkeit einhergehen – an der US-Konzerne näher dran sind, als man denken mag – oder unsere unbegründete Furcht gegenüber den dilettantischen Terroristen des IS. Schließlich hält er eine zynisch-dystopische Rückschau auf sein Leben aus dem Jahre 2122. „Ohne den Tod ist das Leben langweilig, er gibt den Sinn“, mahnt Tretter. Fast zwei Stunden hat er die Sinnhaftigkeit rechtsextremer Aktivisten, von gesellschaftlichen Entwicklungen und Verschwörungstheorien angezweifelt. Immer mit einem roten Faden, meist subtil mit scharfem Blick für die Abgründe des menschlichen Inneren. Ein Abend, über den nachzudenken sich lohnt.