Die Leiden des jungen Referendars
Vorstellung Tiny Stricker, ein Gundelfinger Autor, hat ein neues Buch geschrieben. Zwischen Freiheit und Pflicht
Gundelfingen So mancher Schriftsteller träumt davon, dass der Leser, fasziniert von Stil und Inhalt, sein Buch nicht mehr aus der Hand legen kann und bis zur letzten Seite durchhält. In einer Zeit, in der Bücher zumeist nur noch „angelesen“werden, erfüllt sich dieser Traum nur selten. Dem aus Gundelfingen stammenden Autor Tiny Stricker aber ist das auch mit seiner neuesten Veröffentlichung gelungen. „Grenzland“lautet der Titel des Bändchens, das soeben im Murnauer Verlag p.machinery erschienen ist. Der Inhalt beschäftigt sich nicht nur mit dem ehemaligen Grenzland an der DDR-Mauer, sondern auch mit dem unscharf abgegrenzten Terrain zwischen ersehnter Freiheit und beruflicher Alltagspflicht. Tiny Stricker, der als Zwanzigjähriger von den Ideen der 68er-Revolution erfasst wurde, erlebt als Studienreferendar den harten, oftmals auch kuriosen Auftrag zur Pflichterfüllung als Gegensatz von persönlicher Freiheit. „Es war dieses Gefühl, wieder in die Schule zurückzukehren, der man vor nicht allzu langer Zeit entronnen war…“, heißt es im ersten Absatz.
Geboren wurde Tiny Stricker als Heinrich Stricker 1949 in Gundelfingen. Er besuchte das Musische Gymnasium Lauingen und unternahm nach dem Abitur im Jahre 1968 ausgedehnte Reisen in Länder des Orients. In Teheran wurde sein Vorname Heinrich wegen Strickers Körpergröße in „Tiny“umgewandelt. Sein Buch „Trip Generation“, erschienen 1970, gilt bis heute als literarische Spiegelung von Lebensträumen der 68er-Generation. An der Universität München studierte Springer Anglistik und Germanistik. Als Referendar wurde er an Gymnasien in Bayreuth, München und Hof eingesetzt. Ab 1980 arbeitete er in verschiedenen Ländern für das Goethe-Institut.
Die Erfahrungen während der Referendarzeit haben, wie „Grenzland“zeigt, Strickers Bereitschaft, als Lehrer tätig zu werden, nicht gefördert. Die Niederschrift von Protokollen wird „zur Lebensaufgabe“, das „starre Reglement“wird als kasernenartige Ordnung empfunden, die Urteile über die vom Referendar gestalteten Unterrichtsstunden werden an kuriosen Orten wie beispielsweise im Kartenzimmer der Schule „vor baumelnden, längst verjährten Landkarten“gefällt. Vor allem aber beschreibt der Autor mit feiner Ironie den Zwang der Seminarlehrer, sich trotz eigener Unzulänglichkeit zu Richtern über die Lehrversuche der Lehramtsaspiranten aufzuschwingen. Als Abiturient des Jahres 1968, der bei Veranstaltungen im Landkreis Dillingen mehrfach den Geist der Hippie-Generation repräsentierte, sieht Stricker nun im Rückblick seine Studienzeit „wie eine verlängerte Jugend“, die „in krassem Widerspruch“zu den Lebensbedingungen der zweijährigen Lehrerausbildung stand. „Es war das Dilemma des Referendars, dass man nichts über die Klassen sagen durfte, vor allem nicht zugeben, dass man irgendwelche Schwierigkeiten hatte, da dies die Beurteilung unweigerlich beeinflusst hätte.“Und natürlich leidet dieser Referendar auch unter der rebellischen Grundhaltung von Schülern, die eine Unterrichtsstunde immer wieder in ein chaotisches Spektakel zu verwandeln versuchten.
Eine zweite Welt sichert sich die Ichfigur des Buches durch regelmäßige Besuche bei der Freundin, durch Erlebnisse in Bars, vor allem aber durch schwärmerisch verklärte Ausflüge in die Natur. In diesen Passagen offenbart sich die romantische Komponente des Hippietums: Da hatte „die Szenerie etwas ungemein Märchenhaftes. Man meinte hinwegzuschweben, und das Ende der Allee, von gelben Schwaden erfüllt, war wie ein geheimnisvoller Ausgang.“Aus dieser verzaubernden Perspektive werden sogar Tankstellen zu „Traumstationen“.
Alle Leser, die eine Referendarausbildung durchlaufen haben, werden angerührt sein, wenn sie die Erlebnisse dieses angehenden Lehrers kennenlernen. Tiny Stricker hat es verstanden, das Typische seiner Lehrzeit zu verdeutlichen. Und dieses neue Buch beschreibt in korrektem Deutsch die Mentalität einer Generation, die sich zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und dem Zwang zur geordneten Lebensweise entscheiden musste. In einem Interview erinnert sich Stricker an seine Schulzeit in Gundelfingen und in Lauingen: „Der Lehrer musste meine Eltern überreden, dass sie mich aufs Gymnasium schicken. Ich sollte später ja das Geschäft des Vaters übernehmen.“In „Grenzland“berichtet er, wie glücklich seine Eltern waren, als er, der Aussteiger, mit dem Referendariat endlich einen regulären Beruf ansteuerte.
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„Grenzland“, p.machinery Murnau, Taschenbuch, 84 Seiten, 9,90 Euro;