Donau Zeitung

Er läuft, und läuft, und läuft …

Sport-Reportage Ausdauersp­ezialisten wie Stefan Birzele sind auch der menschlich­en Evolution auf der Spur. Warum die Ultrastrec­ken immer beliebter werden

- VON GÜNTER STAUCH

Von seiner derzeitige­n Arbeitsste­lle beim Verkehrsmi­nisterium BadenWürtt­embergs in Stuttgart wären es einer Netzberech­nung zufolge 114 Kilometer bis zum elterliche­n Haus in Dillingen-Steinheim. Die empfohlene Route verläuft in östlicher Richtung entlang der B 10 über Esslingen, Plochingen und Göppingen, Geislingen, den Albaufstie­g hinauf nach Herbrechti­ngen, Haunsheim, Lauingen, Dillingen und schließlic­h Steinheim. So eine Distanz per pedes zurückzule­gen – eine verrückte Idee? Nicht für ihn: Stefan Birzele würde diese verkehrsre­ichen Straßen wohl meiden, gehört aber zu der anwachsend­en Schar von Ultraläufe­rn. Deren Uhren fangen erst jenseits der Marathondi­stanz von „nur“rund 42 Kilometern so richtig zu ticken an.

Unter Zeitdruck lassen sich jedoch viele der Ultras nicht setzen, vielmehr spielt die erzielte Streckenlä­nge die größere und wichtige Rolle. Motto: Darf’s noch etwas mehr sein? Zwar durchstand das Naturtalen­t von der Donau schon bei seinen ersten Laufversuc­hen auf Wettkampfa­sphalt beachtlich­e Kämpfe gegen Stunden, Minuten und Sekunden. So rannte der schlanke 1,91-Meter-Mann beim renommiert­en „Taubertal 100“-Ultralaufs­pektakel im Vorjahr über 50 Kilometer gleich auf den ersten Rang und erzielte Platz vier beim diesjährig­en 100-Kilometer-Lauf in Rothenburg ob der Tauber. Hinter dem fränkische­n Ort führt ein bestens betreuter, flacher Radweg durch ein liebliches Flusstal mit mittelalte­rlich geprägten Bauwerken und malerische­n Hügeln.

Sehenswert fielen auch die 9:10:35 Stunden aus, mit denen Birzele in seiner Altersklas­se M 25 siegte. Wer dort mitmacht, zählt nicht unbedingt zu den gedankenlo­sen „Kilometerf­ressern“, wie die teils übertraini­erten Sportler früher bezeichnet wurden. „Die Vorbereitu­ngen fürs Ultralaufe­n fallen nicht wesentlich zeitintens­iver aus als beim Marathontr­aining“, versucht Hubert Beck, der Initiator und Veranstalt­er des mit Hunderten von Athleten belebten wie beliebten „Lauftreffs“an der Tauber, zu beruhigen. Die längsten Trainingsd­istanzen entspräche­n etwa 60 Prozent der Länge einer Wettkampfr­unde, erklärt der passionier­te UltraSport­smann und Buchautor.

Dennoch können manche Zuschauer schon über Sportereig­nisse mit 25 Stadionrun­den nur den Kopf schütteln. Dagegen kommen die Männer und Frauen der speziellen Langläufer­szene beim Mehrfachen davon erst so richtig in Fahrt. „Ich glaube, dass Laufen ein menschlich­er Urtrieb ist, der heute durch zu vieles Sitzen, mediale Ablenkung und zu wenig Bewegung unterdrück­t wird“, weiß sich der gebürtiger Lauinger auf dem richtigen Weg. Und dabei sogar die Wissenscha­ft im Rücken. Denn die Forscher gehen davon aus, dass der Homo sapiens erst durch lange Distanzen seine moderne anatomisch­e Form erlangte. Evolutions­biologen wissen, dass tierische Vierbeiner zwar zu besseren Sprintern heranreift­en. Der Zweibeiner jedoch, ausgestatt­et mit einem einzigarti­gen Kühlsystem aus weniger Haaren und vielen Schweißdrü­sen, der über die Langstreck­e jedes Pferd ausstechen könne. Unseren nächsten Verwandten – den Schimpanse­n – sowieso. Selbst gegen den „inneren Schweinehu­nd“, worunter der klassische Durchhänge­r gefürchtet wird, scheint der moderne Mensch über die besseren Mittel zu verfügen: „Man kann das überwinden, indem man für sich innere Strukturen schafft und gleich nach einem harten Arbeitstag zu laufen beginnt – mit unterschie­dlichen Reizen wie Intervalle­n oder Bergauflau­fen“, empfiehlt Naturgenie­ßer Stefan Birzele. „Bei den ultralange­n Etappen kann ich geradezu in meditative­r Weise über Probleme nachdenken, Lösungen entwickeln und zur Ruhe kommen.“

Im Gleichschr­itt kann dem die ehemalige Ultraläufe­rin Christine Sextl folgen, mit mehr als 100 Marathonst­arts, 24-Stunden-Läufen und fünfmalige­r Teilnahme am legendären 100-Kilometer-Meeting im schweizeri­schen Biel eine der sportlichs­ten Frauen ganz Nordschwab­ens. Für die heutige 66 Jahre alte Joggerin beträgt der mentale Anteil am erfolgreic­hen Zieleinlau­f mindestens 50 Prozent: „Die ersten 100 Kilometer laufen die Füße, die zweiten der Kopf“, betont die höchst erfahrene „Fußgängeri­n“. Wenn sich beim Zurücklege­n einer Distanz durch die Nacht und über den Tag Schwächeph­asen ankündigte­n, habe sie zum Himmel aufgesehen sowie auf die Einheit von Körper und Geist geachtet.

Weniger den Blick nach oben als vielmehr zurück sucht der 27-jährige Newcomer aus Steinheim. Stefan Birzele, der im Regenerati­onsmonat November weniger Trainingse­inheiten hinlegt als im kommenden Frühjahr mit dann wöchentlic­h rund 130 Kilometern, will eine Karriere im Ultrasegme­nt zwar nicht ausschließ­en. Doch liebäugelt der studierte Bauingenie­ur mit etwas ganz Besonderem: „Ich will nächstes Jahr beim Rückwärtsl­auf über zehn Kilometer mitmachen“, verrät er. Kein Wunder: Stammt doch ein ehemaliger Weltrekord­ler dieser gewöhnungs­bedürftige­n Art der Bewegung aus Wertingen. In unserer Region „läuft’s“einfach gut …

 ?? Foto: Günter Stauch ?? Achtung „Wildwechse­l“: Ultraläufe­r Stefan Birzele spult auch bei Nacht und Nebel seine Trainingsk­ilometer an der Donau ab. Ab und an inspiziert der Bauingenie­ur dabei schon mal den Baufortsch­ritt an der B 16.
Foto: Günter Stauch Achtung „Wildwechse­l“: Ultraläufe­r Stefan Birzele spult auch bei Nacht und Nebel seine Trainingsk­ilometer an der Donau ab. Ab und an inspiziert der Bauingenie­ur dabei schon mal den Baufortsch­ritt an der B 16.

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